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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0572
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Stellenkommentar

479

nen doppelten Charakter gegeben: der eine ist allen gemeinsam; der andere ist einem jeden
eigentümlich zugehörig. Ein jeder muß nun seinem Charakter soviel wie möglich getreu blei-
ben, nicht den Fehlern, aber doch den Eigentümlichkeiten desselben. Denn es nutzt nichts,
seiner Natur zu widerstreben und irgend etwas zu wollen, was man nicht erreichen kann. Je-
der muß seine Eigentümlichkeiten ausbilden und nicht versuchen wollen, wie ihm Fremdes
steht. Wozu wir das meiste Geschick haben, darin müssen wir arbeiten. Überhaupt müssen
wir nicht sowohl danach ringen, uns Vorzüge, welche die Natur uns versagt hat, anzueignen,
als die Fehler, die derselben anhängen, zu vermeiden. Wir spielen gleichsam eine Rolle und
wir müssen, das ist unser Anstand, die Rolle durchführen, die uns gegeben ist. Vierfach ist
diese Rolle: erstens die allgemeine Natur des Menschen, zweitens die besondere Eigentüm-
lichkeit unseres Charakters, von der eben die Rede war, drittens die Glücksumstände, vier-
tens die Rolle, die wir nach eigenem Willen annehmen. Diese letzte hat die geringste Bedeu-
tung, große dagegen der angeborne Charakter und die Glücksumstände. Anständig ist es,
sich dem Alter entsprechend und nach den besonderen Pflichten zu benehmen, die man als
Privat- oder Amtsperson, überhaupt nach seiner Stellung hat.
Im Falle der Kollision der Pflichten nun urteilt Cicero so: die Natur fordert mehr die Pflichten,
welche aus dem Geselligkeitstriebe, als die, welche aus der Erkenntnis entspringen. Die Er-
kenntnis und Betrachtung der Natur ist mangelhaft und unvollkommen, wenn sie nicht in
Handeln übergeht. Es ist z.B. mehr wert, fließend, wenn nur dabei verständig, sprechen zu
können, als noch so scharfsinnig zu denken, ohne Beredsamkeit. Sobald sich daher nicht die
gesellige Tugend mit der Erkenntnis vereint, bleibt diese vereinzelt und unfruchtbar. Also jede
Pflicht, welche zur Erhaltung der Verbindung unter den Menschen und zur Geselligkeit not-
wendig ist, muß den Vorzug vor der Pflicht haben, welche aus dem Trieb nach Erkenntnis
und Wissen hervorgeht. Eine andere Frage der Kollision ist es, ob der Geselligkeitstrieb auch
vor der Mäßigkeit und Bescheidenheit (also dem decorum) immer den Vorzug haben müsse.
Nach Cicero’s Ansicht, nein; denn es gibt manches, zum Teil so Widriges, zum Teil so Schänd-
liches, daß ein Weiser es nicht einmal zur Rettung seines Vaterlandes tun würde. -
[ Die vier Kardinaltugenden
290 Aristoteles: Ethica Nicomachea VI2-4, ii39a-ii49b; vgl. hierzu auch Stellenkommentar Nr. 50.
291 In Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus stellt sich Nietzsche die Auf-
gabe, »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens «
(KGW III/i, 3-152, 8).
292 Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Frühjahr bis Herbst 1884, KGW VII/2, 101: »>Du
sollst* - unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christenthums und der Ara-
ber, in der Philosophie Kant’s (es ist gleichgültig, ob einem Oberen oder einem Begriff). Hö-
her als >du sollst* steht >ich will* (die Heroen); höher als >ich will* steht >ich bin* (die Götter der
Griechen).«
293 Das ästhetische und das ethische Stadium erörtert Kierkegaard in seinem Werk Entweder-Oder,
das er 1843 unter dem Pseudonym Victor Emerita veröffentlichte (vgl. Entweder-Oder. Zwei-
ter Teil, bes. GWb 2,165-377). Das religiöse Stadium thematisiert Kierkegaard in seinen Stadien
auf des Lebens Weg, GWb 15,495-515 sowie der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift
zu den Philosophischen Brocken, GWb 16.1, bes. 243-296; GWb 16.2, bes. 92-102,281-285,324-
325. Kierkegaard, unter dem Pseudonym Climacus, unterscheidet allerdings zwei religiöse
Stadien: das auch im Heidentum noch mögliche der Religiosität A (in dem der Einzelne in
der Erinnerung noch immer mit dem Ewigen verbunden ist) und dem der Religiosität B, dem
 
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