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Stellenkommentar GT Versuch, KSA 1, S. 14-15 23

Priester und Wahrsager“, so berichtet Platon, verführten mit ihrer Scharlatane-
rie „ganze Städte“ (Gesetze 909 B; vgl. Politeia 364 E).
15, 30 f. Perikies (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen Leichenrede zu
verstehen] Gemeint ist die große Leichenrede, die Thukydides in seiner Darstel-
lung des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) den Perikies bei der Bei-
setzung der im ersten Kriegsjahr Gefallenen (im Winter 431/430) halten läßt.
Sie steht im 2. Buch, Kapitel 35-46. Daß N. schreibt: „Perikies (oder Thukydi-
des)“, gilt der bekannten Überlegung, daß bei Thukydides zwar steht, Perikies
habe diese Rede gehalten, daß aber Thukydides im Unterschied zu seiner sonst
möglichst tatsachengetreuen Wiedergabe der Ereignisse bei den in sein
Geschichtswerk eingefügten Reden sich wohl eine gewisse Freiheit genommen
habe, so daß ihr Duktus ihm zuzurechnen sei. In der Rede auf die Gefallenen
drückt sich Athens Selbstbewußtsein und Selbstverständnis auf dem Höhe-
punkt und kurz vor dem Untergang seiner Poliskultur aus. Sie ist als Meister-
leistung der Geschichtsschreibung berühmt. Ihre Bekanntheit setzt N. als
selbstverständlich voraus. Die Art, in der er sie in den Kontext seiner Ausfüh-
rungen setzt, ist allerdings problematisch, denn die Rede des Perikies gibt
nirgends zu verstehen, Athens „Verlangen nach Schönheit“ (Thukydi-
des: cpiAoKotAoupEv, II 40, 1) sei aus „Mangel, aus Entbehrung, aus Melancho-
lie, aus Schmerz“ erwachsen, wie N. nach einem Denkmuster Schopenhauers
nahe legt (15, 27-29), um daraus Dekadenz-Signale abzulesen.
15, 31-16, 5 f. woher müsste dann das entgegengesetzte Verlangen, das der Zeit
nach früher hervortrat, stammen, das Verlangen nach dem Hässlichen,
der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum Pessimismus, zum tragischen
Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen [...] - woher müsste dann die Tragö-
die stammen? Vielleicht aus der Lust, aus der Kraft [...]?] Diese Ausführungen
entsprechen denen über das „Hässliche“ und „Böse“ in FW 370, KSA 3, 620,
30ff.; vgl. Nietzsche contra Wagner (KSA 6, 425, 32f.). Nachdem Karl Rosen-
kranz erstmals eine Ästhetik des Häßlichen geschrieben hatte (1853), gewann
die - vor allem poetische - Reflexion auf das Phänomen des Häßlichen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein besonderes Interesse. Das Häßliche,
das in Victor Hugos Preface de Cromwell in der Form des Grotesken erscheint,
erhält von Baudelaire, den N. zur Kenntnis nahm, besondere Qualitäten als
provozierende Abnormität zugesprochen: als Manifestation einer dissonanten
Modernität, als Mittel einer antibürgerlichen Provokation und als Widerspruch
gegen idealistische Überformungen der Wirklichkeit sowie als reflexionsstei-
gerndes, intellektualisierendes Reizelement. Schon in Menschliches, Allzu-
menschliches widmete N. diesem „Hässlichen“ seine Aufmerksamkeit (MA 1217,
KSA 2, 177). Und noch in Ecce homo spricht er von den modernen Entdeckern
 
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