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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0047
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26 Versuch einer Selbstkritik

tion von „Moral“ (insbesondere der christlichen) und „Leben“ zum Haupt-
thema. Vgl. dazu den Überblickskommentar. Daß N. jeweils von der „Optik“
spricht, resultiert aus einer seiner grundlegenden Theorien: daß alle Erkennt-
nisse und Aussagen perspektivisch sind. Vgl. die Belegstellen im Kommentar
zu 18, 20-22. N. wendet diese Theorie auch auf sich selbst an.
17,11 f. dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerech tfer-
tigt ist] Vgl. 47, 26 f. und 152, 19 f. sowie die Erläuterung zu 47, 26 f.
17,15-18 einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der
im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust
und Selbstherrlichkeit inne werden will] Hier fließen mehrere Vorstellungen aus
der griechischen Philosophie zusammen. Die Vorstellung von einem „Künstler-
Gott“ erinnert an den Demiurgen-Mythos in Platons Timaios. Platons Demiurg
ist ein „Bildner“, „Baumeister“, „Meister“ und „Schöpfer“ des „Alls“, deshalb
zeigt er eine seit jeher schon bemerkte Affinität zum biblischen Schöpfergott.
Er schafft den „vollkommenen“ Kosmos im Hinblick auf die ewigen Urbilder
und ist selbst „gut“. Der Demiurg habe „nach dem Ewigen“ geblickt, „denn
die Welt ist das Schönste von allem Entstandenen, und der Meister ist der
beste von allen Urhebern“ (ö pev ydp küAAujtoc; tcüv yeyovÖTCüv, ö ö’ otpioToq
tcüv arricüv, 29 a). N. spielt mit seinem „Künstler-Gott“ auf Platons Demiurgen
aber nur an, um eine Kontrafaktur ins Profil zu heben, die seinem radikalen
Antiplatonismus und d. h. Anti-Idealismus entspricht. Das zeigt sich zunächst
darin, daß er nicht, wie Platon, einen moralisch „guten“, sondern ausdrücklich
einen „unmoralischen“, d. h. ,jenseits von Gut und Böse‘ stehenden Künstler-
gott statuiert, sodann in der Aufnahme archaisch-voridealistischer Vorstellun-
gen, wie er sie bei seinem Lieblingsphilosophen Heraklit fand. Heraklit denkt
eine Welt aus lauter Gegensätzen, die sich in einem wechselvollen Ganzen
gegenseitig aufheben. Analog sieht N. seinen Künstlergott gleichermaßen „im
Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen“ wirken.
17, 20-23 Die Welt, in jedem Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes,
als die ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten,
Widerspruchreichsten, der [sic] nur im Scheine sich zu erlösen weiss] Hier
mischen sich Anklänge an Heraklits pantheistisches Denkmuster mit Nachwir-
kungen Schopenhauers, der das Leiden am Grund des Daseins, den er „Wille“
nennt, im „Schein“ der Kunst sich „erlösen“ sieht. Dennoch opponiert N. im
Wesentlichen gegen Schopenhauers moralisches Plädoyer, wie er alsbald
betont, mit einem „Pessimismus ,jenseits von Gut und Böse“4 (17, 28 f.).
17, 29-32 jene „Perversität der Gesinnung“ [...], gegen welche Schopenhauer
nicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu
 
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