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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0050
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Stellenkommentar GT Versuch, KSA 1, S. 19-20 29

(NL 1872/1873, KSA 7, 19[36], 429, 5f.): „Wir sind der Kultur zugekehrt: das
,Deutsche4 als erlösende Kraft!“
20, 17 f. unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung] Am
18. Januar 1871, kurz vor dem Ende des deutsch-französischen Kriegs, wurde
das Deutsche Kaiserreich begründet und Wilhelm I. von Preußen in Versailles
zum deutschen Kaiser proklamiert.
20,18-20 seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den
„modernen Ideen“ machte!] Die Ablehnung der Demokratie und der „modernen
Ideen“ der Volkssouveränität, Freiheit und Gleichheit verschärft sich seit N.s
frühen Briefen aus der Basler Zeit und wird seit dem Zarathustra ein Dauer-
thema. Obwohl N. sich als „unzeitgemäß“ verstand, stimmte er hierin mit der
Mehrheit des deutschen Bildungsbürgertums überein, denn wie dieses
befürchtete er den Untergang der von ihm immer wieder beschworenen „Cul-
tur“ aufgrund der mit der Demokratie verbundenen Nivellierung und „Vermit-
telmässigung“. Ein Leittext zur zeitgenössischen Demokratie-Debatte, auch für
N. und sein Umfeld, war Alexis de Tocquevilles Werk De la Democratie en
Amerique, dessen erster Band 1835 in Frankreich erschienen war. Schon ein
Jahr später kamen gleich zwei deutsche Übersetzungen heraus. Tocqueville sah
in der Demokratie, wie er sie in Amerika studieren konnte, auch für Europa
die Staatsform der Zukunft, er diagnostizierte ihre Unaufhaltsamkeit und kam
zu einem gemäßigt positiven Gesamt-Votum, sah aber auch die Gefahr der
Nivellierung im Bereich von Bildung und Kultur. Die Rezeption war uneinheit-
lich. Manche erkannten die Chancen der Demokratie, die Konservativen lehn-
ten die Lehre von der Volkssouveränität scharf ab, die Liberalen waren zwie-
spältig, nach 1848 gingen sie immer mehr auf kritische Distanz, weil sie - so
auch der führende deutsche Staatsrechtslehrer Robert von Mohl in einer schon
1844 erschienenen Rezension - die „Gefährdung der höheren Geistesbildung“
durch den Druck von unten befürchteten. Deshalb neigte Mohl schließlich zu
einer pessimistischen Interpretation der Demokratie in Amerika und schloß
sich der konservativen Ablehnung des Demokratisierungsprozesses an, obwohl
er als einer der ersten Staatsrechtslehrer in Deutschland schon vor der Revolu-
tion von 1848 für die Einführung der parlamentarischen Regierung eingetreten
war. N. entlieh am 5. 3. 1872 aus der Universitätsbibliothek Basel das Haupt-
werk von Robert von Mohl: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1-3, Tübin-
gen 1860, 1862, 1869.
Der Ideenkampf um Deutschlands Zukunft erreichte schon 1848 einen ers-
ten Höhepunkt; in der Frankfurter Nationalversammlung spielte Tocquevilles
Werk eine bedeutende Rolle. 1856 folgte sein großes historisch-soziologisches
Buch L’Ancien Regime et la Revolution, das N. kannte und sogar exzerpierte:
 
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