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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 25 95

N. kannte die Adjektive „dionysisch“ und „apollinisch“ aus mehreren alt-
philologischen Standardwerken (vgl. das Kapitel Quellen, S. 42f.); vor allem
entnahm er die für ihn speziell im Hinblick auf die Tragödie wesentliche Ver-
bindung des „Dionysischen“ mit dem „Apollinischen“ dem Werk von Julius
Leopold Klein: Geschichte des Drama’s. Bd. 1: Geschichte des griechischen und
römischen Drama’s (1865). Er hatte es am 22.4.1871, also während der Arbeit
an GT aus der Universitätsbibliothek Basel entliehen. Schon in der Einleitung
exponiert Klein beide Begriffe. Er rühmt, wie dann auch N., der ihm folgt,
ohne ihn als Gewährsmann zu nennen, „diese gegenseitige Durchdringung der
beiden, im attischen Drama, als dem vollkommensten Gestaltungs-Ausdruck
des hellenischen Geistes und der hellenischen Kunst, tiefsinnig verschmolze-
nen Kunststimmungen: Apollinischer Erleuchtung mit Dionysischer Gemüths-
Trunkenheit“ (S. 51). Spricht Klein hier von „gegenseitiger Durchdringung“, so
N. in GT von „Paarung“ (26, 1), und aus Kleins „tiefsinnig verschmolzenen
Kunststimmungen“ macht er ebenfalls auf die „Kunst“ bezogene und zur Ver-
schmelzung drängende „Triebe“ (25, 18). Vor allem konstatiert er in enger
Anlehnung an Klein, der die Einheit von Dionysischem und Apollinischem im
„attischen Drama“ erkennen will, daß aus dieser Paarung „zuletzt das ebenso
dionysische wie apollinische Kunstwerk“ speziell der „attischen Tragödie“ her-
vorgehe (26, lf.). Klein spricht vom „griechischen Drama“ generell und nennt
ausdrücklich „Tragödie und Komödie“ (S. 50); N. konzentriert seine Darstel-
lung, deren übergeordnetem Thema entsprechend, auf die Tragödie. Und wäh-
rend Klein die historisch faßbare kultische Grundlage der „Einheitsidee von
Dionysos - Apollon“ (S. 50) betont, verfährt N. ahistorisch und naturalistisch:
Er imitiert Wagners Vorliebe für sexuelle Metaphern, indem er die „Zweiheit
der Geschlechter“ (25, 7) und die aus ihr folgende „Paarung“ und Zeugung
sowie die Sphäre der „Triebe“ assoziiert.
Wie Julius Leopold Klein und N. konstatiert auch Richard Wagner in seiner
Schrift Über die Bestimmung der Oper (1871) die Vereinigung des Dionysischen
und des Apollinischen gerade in der griechischen Tragödie. Er spricht von den
„Eigenschaften des antiken Drama’s“ und fährt fort: „Wie sich dieses aus
einem Kompromiß des apollinischen mit dem dionysischen Elemente zu seiner
tragischen Eigenthümlichkeit ausgebildet hatte, konnte sich hier auf der
Grundlage einer uns fast unverständlich gewordenen Lyrik der althellenische,
didaktische Priester-Hymnus mit dem neueren dionysischen Dithyrambus zu
der hinreißenden Wirkung vereinigen, welche dem tragischen Kunstwerke der
Griechen so unvergleichlich zu eigen ist“ (GSD IX, 137 f.). Im gleichen Jahr 1871,
in dem Wagner diese Abhandlung verfaßte, vollendete N. seine Tragödien-
schrift. Der enge Gesprächskontakt, der sich aus den zahlreichen Besuchen
N.s bei den Wagners in Tribschen ergab, sowie das gemeinsame Interesse an
 
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