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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0246
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Stellenkommentar GT 11, KSA 1, S. 75 225

abgemagerten Epigonen“ die Rede (KSA 1, 533, 14), und zu diesen rechnet N.,
ganz nach Wagners Vorbild, alsbald auch Euripides. Für Wagner zeigte sich
bei Euripides der „Verfall der griechischen Tragödie“, weil bei ihm die „Ver-
standesreflexion“ (bei N. erscheint sie als „Sokratismus“) über das „Gefühl“
gesiegt habe, von dem die Musik der Chorlieder erfüllt gewesen sei (Oper und
Drama, GSD IV, 144). Aufschlußreich ist die Vorarbeit Socrates und die Tragoe-
die, weil sie das Epigonentum nicht erst wie dann GT beim letzten der großen
griechischen Tragiker, bei Euripides, feststellt, sondern schon bei Aischylos
und Sophokles. Damit deklariert N. die gesamte Geschichte der Tragödie im
Verhältnis zu ihrem (imaginären) Ursprung zur Verfallsgeschichte. Geschichte
erscheint demnach prinzipiell als Niedergang, als „Verfall“. Darin zeichnet sich
die von N. in allen Frühschriften und noch weit darüber hinaus adaptierte
Zeitstimmung ab: Das Epigonentum war eines der großen Themen, ja geradezu
eine Obsession der Zeit. Am eindringlichsten entfaltet N. das Epigonen-Syn-
drom in der bald nach GT entstandenen Abhandlung Vom Nutzen und Nach-
theil der Historie für das Leben. Er spricht darin vom „Gefühl des gar zu Ueber-
späten und Epigonenhaften“ (KSA 1, 305, 11 f.), das die Zeit beherrsche, und
von dem „oftmals peinlich anmuthende[n] Gedanke[n], Epigonen zu sein“ (307,
18), um dann immer wieder das Los der „Nachkommen“ und der „Spätlinge“
zu beklagen (306-308). Allerdings wehrt sich N. auch schon gegen dieses
Gefühl des Epigonentums im Namen einer erhofften Zukunft: „Formt in euch
ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben,
Epigonen zu sein“ (295, 6f.), und weiter heißt es: „Wahrhaftig, lähmend und
verstimmend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein“ (308, 11 f.).
Ähnlich wie im Bereich der Dichtung verfährt N. auch mit der Geschichte
der griechischen Philosophie. Auch sie gerät in seinen Augen zur Verfallsge-
schichte. In der ungefähr gleichzeitig mit GT entstandenen Abhandlung Die
Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen initiiert er einen archaisieren-
den Kult der Vorsokratiker, um dann deren „Epigonen, mit Plato an der Spitze“
(KSA 1, 810, 4) abzuqualifizieren. Mit all dem projiziert N. das kulturelle
Bewußtsein seiner eigenen Zeit, für die „Epigone“ ein Schlüsselbegriff war,
zurück auf die Antike. Carl Leberecht Immermann hatte das literarische Signal
gegeben, als er 1836 seinen Roman Die Epigonen veröffentlichte und darin eine
vielzitierte Diagnose des zeitgenössischen Epigonenschicksals gab; Adalbert
Stifter gestaltete in seinem Roman Der Nachsommer (1857), den N. sehr
schätzte, das Los einer restaurativen Nachzeitigkeit; und Gottfried Keller, der
bereits 1847 eine seiner später nochmals überarbeiteten Ghaselen mit dem Vers
„Unser ist das Los der Epigonen“ beginnt, inszeniert in seinem Roman Der
Grüne Heinrich (1. Fassung 1855) einen der historisierenden Festumzüge in den
Kostümen einer vergangenen Zeit, wie sie damals üblich waren, um den Ver-
 
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