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226 Die Geburt der Tragödie

lust eigener authentischer Gegenwart zu beklagen. Aufschlußreich gestalten
auch bedeutende Erzählungen des 19. Jahrhunderts das Schicksal des Epigo-
nentums: Franz Grillparzer schuf in seiner von 1832 bis 1848 entstandenen
Novelle Der arme Spielmann eine tragische Epigonenfigur, einen Enterbten in
jedem Sinne, der keinen Zugang zum Unmittelbar-Natürlichen mehr hat, einen
Geschwächten, der große Musik nur noch in schwärmerischer Retrospektive
und unzulänglich zu reproduzieren vermag und bezeichnenderweise sogar als
„Kopist“ sein Leben fristen muß. Stifter reflektierte in einer späten Erzählung
mit dem programmatischen Titel Nachkommenschaften das Problem des Epigo-
nentums mit Evokationen des bloß noch Reproduktiven und Iterativen, die
deutlich N.s Ring der ewigen Wiederkehr in seiner ursprünglich fatalen Bedeu-
tung vorwegnehmen. Schließlich widmete Gottfried Keller in den Siebziger] äh-
ren mehrere seiner Züricher Novellen, vor allem Hadlaub und Der Landvogt von
Greifensee, ganz dem Zeitthema des Epigonentums. Nach dem Ende der großen
Zeit der deutschen Dichtung und Philosophie um 1830, so ein weitverbreitetes
Gefühl, sei nur noch Nachrangiges möglich. N. greift diese Diagnose in GT auf,
indem er emphatisch ausruft: „Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den
Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt!“. Noch deutlicher
heißt es später (131, 4-11): „Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe,
nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den helleni-
schen Zauberberg führt [...] was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hof-
fen“. Zu hoffen bleibt ihnen nur die Erlösung durch Wagners „wiedererweckte
Tragödienmusik“ (131, 14).
76, 6f. jene spätere Kunstgattung ist als neuere attische Komödie
bekannt.] Die Literaturgeschichte bildet Zäsuren zwischen der ,Alten Komödie4
des 5. Jahrhunderts mit Aristophanes als Hauptvertreter, der „Mittleren Komö-
die“, die vom Ende des für Athen ruinösen Peloponnesischen Krieges 404
v. Chr. bis zu Menander reicht, und der mit Menander (342-291 v. Chr.) begin-
nenden „Neuen Komödie“. Diese zeigte, wie schon z.T. die mittlere Komödie,
manche Einflüsse des Euripides bis hin zu direkten Zitaten. N. fährt deshalb
fort (76, 7 f.): „In ihr lebte die entartete Gestalt der Tragödie fort“. Als besonde-
res Zeichen der ,Entartung4 dürfte N. dabei die stark reduzierte Rolle des von
ihm als wesentlich gewerteten Chors angesehen haben. Das am meisten auffal-
lende Merkmal schon der Mittleren Komödie und dann noch mehr der Neuen
Komödie ist die Stereotypisierung von Alltagsfiguren (alte Männer, junge
Frauen, mißtrauische Liebhaber, intrigante Sklaven, Parasiten, Kupplerinnen
usw.) und eine Vorliebe für Liebesverwicklungen. Die starke Nachwirkung des
Euripides zeigt sich in der Behandlung moderner Probleme, in der häufigen
Verwendung moralischer Maximen, in Intrigen-Handlungen, Wiedererken-
nungs-(Anagnorisis-)Szenen, ferner in der isolierten Stellung des Prologs.
 
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