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228 Die Geburt der Tragödie

Literatur I, Stuttgart 1966, S. 109). In der Quelle, deren richtige Übersetzung N.
nach Ausweis seines Schlegel-Exzerpts kannte, bezieht sich also der Passus
„wenn die Toten noch Empfindung [Wahrnehmung] hätten“ nicht auf Euripi-
des, sondern auf dessen Verehrer, der ja nur, wenn er selbst als Toter noch
wahrnehmungsfähig wäre, den Euripides sehen könnte; N. dagegen bezieht
den Passus in GT auf Euripides, um diesen herabzusetzen, indem er nicht von
der „Empfindung“ (Wahrnehmungsfähigkeit) spricht, sondern schreibt: „wenn
er nur überhaupt überzeugt sein dürfte, daß der Verstorbene auch jetzt noch
bei Verstände sei“. Vielleicht aber wurde N. zu seiner fälschlichen Wiedergabe
durch Karl Otfried Müller, Geschichte der griechischen Literatur, Bd. 2, Breslau
1841, S. 281, Fußnote 1 verleitet: „Philemon war ein solcher Bewunderer des
Euripides, daß er sagte, er würde sich gleich umbringen, um den Euripides zu
sehen, wenn er überzeugt wäre, daß die Verstorbenen noch Leben und Ver-
stand hätten“.
76, 16-27 Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas
Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander und
Philemon gemein hat und was für jene so aufregend vorbildlich wirkte: so genügt
es zu sagen, dass der Zuschauer von Euripides auf die Bühne gebracht wor-
den ist. [...] Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den
Zuschauerräumen auf die Scene] Schon in der Antike galt die Verwendung der
Umgangssprache als ein Merkmal der Euripideischen Stücke, das in die Neue
Komödie überging (vgl. Satyros, Vita Euripidis, ed. Arnim, Frg. 39, col. VII),
und dies besonders, weil manche Stücke des Euripides, so Alkestis und Ion,
eine Mittelstellung zwischen Tragödie und Komödie einnehmen. Die Aussage,
daß der Zuschauer von Euripides auf die Bühne gebracht worden sei, über-
nimmt N. wörtlich von A. W. Schlegel, der aufgrund seiner Vorliebe für das
„Idealische“ und Heroische den Euripides folgendermaßen kritisiert: „Es ist
dem Euripides recht angelegen, seine Zuschauer [!] immerfort zu erinnern:
Seht, jene Wesen waren Menschen, hatten gerade solche Schwächen, handel-
ten nach eben solchen Triebfedern wie ihr, wie der geringste unter euch. Des-
wegen malt er recht mit Liebe die Blößen und sittlichen Gebrechen seiner Per-
sonen aus, ja er läßt sie alles, was ihnen keine Ehre macht, in naiven
Geständnissen zur Schau tragen“ (Vorlesungen über dramatische Kunst und
Literatur I, a.a.O. S. 104).
76, 21-25 Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die prometheischen Tragiker
vor Euripides ihre Helden formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue
Maske der Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänzlich
abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein.] N. orientiert sich hier an
der Euripides-Kritik in den alsbald ausdrücklich genannten (76, 34-77, 1) Frö-
 
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