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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0251
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230 Die Geburt der Tragödie

renden Schuft. Euripides setzt diese nachhomerische Tradition der Negativie-
rung des Odysseus fort. In seiner Hekuba, in der er die Greueltaten der Grie-
chen an den besiegten Trojanern und insbesondere an den hilflosen
trojanischen Frauen darstellt, erscheint Odysseus als kaltherziger Unmensch.
Euripides hinterfragt aus dem Geist der griechischen Aufklärung und ange-
sichts der blutigen Ereignisse des Peloponnesischen Krieges den „Helden“. So
wenig dies mit einem archaischen Heros zu tun hat - wie N. bedauert - so
wenig ergeben sich hier Affinitäten zur depotenzierten Komödienfigur des
„Graeculus“ in der Neueren Komödie, wie er nahe legt.
76, 34-77, 6 Was Euripides sich in den aristophanischen „Fröschen“ zum Ver-
dienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer
pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Hel-
den zu spüren. Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Dop-
pelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu
reden verstehe.] Aristophanes läßt in dem vor Dionysos als Kunstrichter statt-
findenden Streitgespräch zwischen Aischylos und Euripides letzteren zu dem
älteren Tragiker sagen: „Roßhähne nicht, Bockhirsche nicht, wie du getan,
dergleichen / Auf persischen Tapeten wohl und Teppichen zu finden! / Wie
ich aus deinen Händen einst die Poesie empfangen, / Voll ungenießbaren Bom-
basts, pausbäckig aufgedunsen, / Gleich nahm ich sie und hielt sie kurz, die
Taille ihr zu mindern, / Durch Wasserkur und Leiertand, Spazierengehn - und
Säftchen, / Aus feinem Umgang destilliert und abgeseiht aus Büchern [...] Wer
in die Szene trat, den ließ ich Haus und Stammbaum nennen / Fürs ganze
Drama“ (Übers. Seeger).
77, 6-11 Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst bei Euripides
sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie
durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisticationen
zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe.] In der
Vorstufe Socrates und die Tragoedie (KSA 1, 535, 3-7) zitiert N. aus den Fröschen
des Aristophanes folgende Verse (956-958) nach der 1871 erschienenen Über-
setzung Droysens: „nach Regeln der Kunst zu Werke zu gehn, abzirkeln Zeil
um Zeile, / bemerken, denken, sehn, verstehn, belisten, lieben, schleichen /
argwöhnen, läugnen, hin und her erwägen“.
77,12-14 Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen
Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne.] Den Sentenzen -
Reichtum des Euripides kritisiert ebenfalls unter dem Aspekt der Sophistik das
von N. herangezogene Werk von Julius Leopold Klein: Geschichte des Drama’s,
Bd. 1, S. 406. Schon in der Antike galt der Sentenzen-Reichtum als besonderes
Merkmal der Euripideischen Tragödien; auf ihm beruhte zum guten Teil die
 
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