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Stellenkommentar GT 11, KSA 1, S. 76-77 231

Breitenwirkung des Euripides, ähnlich wie etwa im 19. Jahrhundert diejenige
Schillers. Allerdings resultierte die Beliebtheit dieser Sentenzen nicht nur aus
ihrer bürgerlichen Alltäglichkeit, wie N. im Anschluß an Aristophanes sagt;
selbst Alexander der Große schätzte sie, der stoische Philosoph Chrysipp
machte sie sich zu eigen und schon Platon würdigte sie als Weisheitsschatz.
N. nahm nicht zur Kenntnis oder wollte nicht zur Kenntnis nehmen, was in
dem sonst von ihm intensiv herangezogenen Grundriß der Griechischen Litera-
tur von Gottfried Bernhardy steht (S. 832 f.): daß „die gebildetsten Männer ihn
im Gedächtniß trugen [...] Alexander der Große der ihn fleißig las, machte
gleich den meisten seiner Umgebung Stellen des Tragikers jeder Zeit zu dicta
probantia (Plut. Alex. 8.51.53), ungefähr im Sinne vom Philosophen Chrysipp,
der mit Euripides wie seinem Hauseigenthum anthologisch [...] verfuhr, oder
Quintus Cicero, in der Briefsammlung seines Bruders Epp. XVI, 8: - inquit
Euripides. Cui tu quantum credas nescio: ego certe singulos eius versus singula
testimonia puto [„wie weit du ihm glaubst, weiß ich nicht: ich aber, das ist
gewiß, glaube, daß einzelne seiner Verse einzigartige Zeugnisse sind“]. Dieser
Gesichtspunkt ist zuerst am anerkennendsten ausgesprochen worden von Plato
Rep. VIII. p. 568. A. p te Tpayqjöiot öAcoq aocpöv öokei slvai Kai ö Eupimöpc;
öiacpspcov ev avTfj: weiterhin aber in der Lektüre sowohl der gebildetsten Auto-
ren, vor allem Plutarch’s, als auch der Sammler von Florilegien, denen wir
viele der schätzbarsten Bruchstücke verdanken, Orion, Stobäus, Maximus, loh.
Damascenus, normal geworden“. Quintilian hebt in einer Partie, die N.
bekannt war, nicht nur allgemein die Sentenzen des Euripides hervor, sondern
attestiert ihnen auch durchaus philosophische Qualität (Institutio oratoria X
I, 67/68; vgl. das Zitat im Kommentar zu 77, 19-25). Sogar noch neuzeitliche
Humanisten legten Blütenlesen von Sentenzen aus den Tragödien des Euripi-
des an, so Michael Neander: Aristologia Euripidea, Basel 1559; Hugo Grotius:
Excerpta ex tragoediis et com. Graecis, Paris 1626.
Das eigentliche Motiv für N.s Ablehnung der Sentenzen am Beispiel des
Euripides dürfte Wagners Aversion gegen sentenziöses Sprechen sein. Am
II. März 1872 notierte Cosima in ihrem Tagebuch: „Wie wir gestern abend noch
von den Sentenzen der Helden Schillers redeten, sagte R., schließlich sprechen
sie wie Sancho Pansa in Sprichwörtern“ (CT I, 499). Wagner spottete auch
über die Verwendung von Sentenzen in den Stichomythien der Euripideischen
Iphigenie auf Tauris, wie Cosima wiederum in ihrem Tagebuch berichtet (CT I,
1027). Schon in der kurz vor GT erschienenen kleinen Schrift Über die Bestim-
mung der Oper (1871), auf die sich N. alsbald in mehreren Briefen bezieht,
lehnt Wagner die „Sentenz“ mit genauerer Begründung ab, weil sie ein letztlich
unkünstlerisches „Werkzeug der Verständlichung der Begriffe“ sei; dagegen
könne die Musik das Wesentliche „zu einem einzigen unmittelbaren Ausdruck“
 
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