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232 Die Geburt der Tragödie

verschmelzen. Während die Sentenz bloß sagen könne: „das bedeutet“, ver-
möge das Pathos der Musik zu sagen: „das ist!“ (GSD IX, 138 f.). In der vierten
der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth heißt es: „die
wirkliche Leidenschaft des Lebens spricht nicht in Sentenzen und die dichteri-
sche erweckt leicht Misstrauen gegen ihre Ehrlichkeit“ (KSA 1, 488, 21-23).
Im Zuge der in der Schrift Menschliches, Allzumenschliches stattfindenden
Selbstrevision, die viele Wertungen des Frühwerks betraf, änderte N. seine Mei-
nung auch im Hinblick auf Sentenzen. Sie wurden für ihn mit der Hinwendung
zur aphoristischen Schreibart und zur französischen Moralistik sogar beson-
ders interessant. Vgl. Menschliches, Allzumenschliches II (VM 165 u. 168, KSA 2,
445 f.).
77, 14-19 Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine poli-
tischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der
Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halb-
mensch den Sprachcharakter bestimmt hatten.] Die politische Position des Euri-
pides wird traditionell aus Versen abgeleitet, die er in seinem Drama Die Hiketi-
den (Die Schutzflehenden) den athenischen Nationalheros Theseus formulieren
läßt (V. 238-45): Von den drei für die Polis wesentlichen Gruppen sei diejenige
„in der Mitte“ - zwischen Arm und Reich - die staatstragende (V. 244: p ’v
peaqj od)^8i nöXEiq). Daraus ein Plädoyer des Euripides für „Mittelmässigkeit“
abzuleiten, ist ebenso unzutreffend (Wilamowitz S. 25, bei Gründer 1969, S. 48,
spricht von „geflissentlicher Entstellung“) wie die Aussage, daß bis hin zu
Euripides „in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr
oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten“. Mit Ausnahme
des (pseudo-)aischyleischen Prometheus, den N. immer wieder zum alleinigen
Maßstab erhebt (so wenn er von den „prometheischen Tragiker[n] vor Euripi-
des“ spricht; 76, 22), und der Herakles-Dramen ist die Handlung keiner einzi-
gen erhaltenen Tragödie des Aischylos und des Sophokles von einem „Halb-
gott“ oder einem als halbgöttlich aufzufassenden Helden bestimmt, woraus N.
den besonderen „Sprachcharakter“ dieser Dramen abzuleiten versucht. Auf-
schlußreich ist es, daß N. die drei am leichtesten vergleichbaren Dramen des
Aischylos, Sophokles und Euripides gerade nicht vergleicht: die aufgrund der
Elektra-Figur und der mit ihr verbundenen Orest-Handlung auf das gleiche
mythologische Substrat zurückgreifenden Choephoren des Aischylos und die
,Elektra‘-Dramen des Sophokles und des Euripides. N. verschweigt wider besse-
res Wissen, daß der von ihm gegenüber Euripides (und letztlich auch Sopho-
kles) gepriesene „Sprachcharakter“ des Aischylos schon antiken Zeugnissen
zufolge als „fehlerhaft“ kritisiert wurde. Zustimmend bemerkt N. selbst noch in
seinen Vorlesungsaufzeichnungen zu den Choephoren des Aischylos das Urteil
Quintilians (X 1, 66): „tragoedias primus in lucem Aeschylus protulit sublimis
 
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