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304 Die Geburt der Tragödie

Frühschrift noch mit Schopenhauers Pessimismus identifiziert, den er mit dem
,Tragischen4 verbindet, stilisiert er Sokrates zum Vertreter des von Schopen-
hauer als „ruchlos“ bezeichneten Optimismus, um eine Frontstellung aufzu-
bauen. Die Polemik gegen den Optimismus, die bereits früher beginnt (94, 21-
32; 95, 24-26), setzt sich auf den folgenden Seiten fort (101, 21; 102, 2f.). N.s
Verbindung des angeblich in Sokrates verkörperten Optimismus mit dem Glau-
ben an die „Erkenntniss“ entspricht der Anschauung Schopenhauers. Vgl.
hierzu den Kommentar zu 94, 21-95, 25. In grundlegenden Ausführungen hatte
Schopenhauer das „erkennende Bewußtseyn“ im Verhältnis zum unbewußten
„Willen“ als nachrangig dargestellt (Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zwei-
tes Buch, Kapitel 18. Frauenstädt, Bd. 3, S. 222 f.).
Später, nach der Absage an Schopenhauers Pessimismus, fungiert Sokrates
hingegen als Vertreter des nunmehr bekämpften Pessimismus (in der Fröhli-
chen Wissenschaft, Nr. 340); als N. den Pessimismus als Symptom der Lebens-
verneinung der Decadence zurechnet, macht er ihn zum decadent und läßt
ihn als lebensverneinenden Nihilisten erscheinen (in der Götzen-Dämmerung:
Das Problem des Sokrates). Zu der bereits weitgehenden Veränderung des
Sokrates-Bildes in Menschliches, Allzumenschliches vgl. den Überblickskom-
mentar zum Stellenwert der Tragödienschrift im Gesamtwerk S. 68 f.
100, 29-101, 1 In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom
Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der
edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so wie jener
Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste
Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen
Fähigkeiten geschätzt wurde.] Diese Aussage gliedert sich in zwei verschiedene
Teile: Der erste, der vom „sokratischen Menschen“ handelt, bezieht sich auf
das Verfahren des Sokrates selbst, wie wir es aus Platons Dialogen kennen.
In ihnen verfolgt Sokrates unablässig sein Anliegen, „wahre Erkenntniss“ zu
erlangen, indem er das Scheinwissen seiner Gesprächspartner bloßstellt und
ihre Irrtümer entlarvt. Dieses Bemühen um wahre Erkenntnis erhebt er zu
einem hohen menschlichen „Beruf“, ja zu einer Berufung. Der zweite Teil der
Aussage, der sich auf die Zeit „von Sokrates ab“ bezieht, zielt vor allem auf das
syllogistische Verfahren des Aristoteles, der eine wissenschaftlich-systematisch
begründete Herstellung zuerst von „Begriffen“, dann von „Urtheilen“ und end-
lich von „Schlüssen“ unternahm. Die „Begriffe“ gelten dem Allgemeinen (nicht
dem Einzelnen) und dem Wesentlichen (statt dem Akzidentellen), also etwa
der Gattung (unter der die Arten usw. stehen); der Begriff erhält seine Kontur
durch Grenzbestimmungen, die ihn von anderen Begriffen trennen. Die
Begriffe allein ergeben aber noch keine Aussage über Wahrheit und Irrtum,
also kein Urteil. Dies ist erst in einem Satz möglich, der bejaht oder verneint.
 
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