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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0329
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308 Die Geburt der Tragödie

(196c) formuliert er bündig im Hinblick auf den Eros: „Es gibt Übereinstim-
mung darin, daß Besonnenheit (Sophrosyne) Herrschaft über die Lüste und
Begierden sei“ - eivai ydp öpoAoyelrai ococppoauvri to KpaTEiv pöovtüv Kai
ETuOvpitüv. Daß N. die Sophrosyne gerade dem „apollinischen“ Griechen zuer-
kennt, rührt wahrscheinlich von dem berühmten delphischen Spruch her
(Apollon ist der delphische Gott): ppöcv ayav: „nichts im Übermaß!“ Daß er
dann aber gegen diese Sophrosyne den Sokrates abgrenzt, entspricht nicht
Platons Dialogen. In den zitierten Partien preist gerade Sokrates die Sophro-
syne als hohe Tugend.
101, 5-7 wurden von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf
die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet] Für die griechischen
Sophisten wie für Sokrates war die Dialektik die dialogische Kunst der Beweis-
führung durch Ausspielen aller Gründe und Gegengründe im Sinne einer
allseitigen Erwägung. Platon charakterisiert mit dem Begriff,Dialektik4 (öiaAEK-
tlkt[) das methodische Verfahren der Philosophie im Ganzen. In der Abhand-
lung Socrates und die Tragoedie, einer Vorstufe zu GT, heißt es (KSA 1, 548,
17-19): „Die Tragödie gieng an einer optimistischen Dialektik und Ethik zu
Grunde: das will eben so viel sagen als: das Musikdrama gieng an einem Man-
gel an Musik zu Grunde“; in einer Nachlaßnotiz vom Herbst 1869 zu der Vor-
stufe von GT: Socrates und die griechische Tragödie: „Sokrates Fanatiker der
Dialektik“ (NL 1869, KSA 7, 1[44], 22, 5). Xenophon läßt in seinen Memorabilien
(Erinnerungen an Sokrates) seine Sokrates-Figur die Dialektik mit folgenden
Worten empfehlen und zugleich charakterisieren (IV 5, 11-6, 1): „Vielmehr ist
es den Menschen mit Selbstzucht allein möglich, das wahrhaft Gute an den
Dingen zu betrachten sowie in ihren Überlegungen und in ihren Handlungen
nach Gattungen zu unterscheiden (öiaAcyovTaq Kara ycvp) und alsdann dem
Guten den Vorzug zu geben und sich vom Schlimmen fernzuhalten. Und der-
art, so sagte er, würden die Menschen am besten und glücklichsten sowie am
meisten fähig dazu, die Kunst der Dialektik zu betreiben (öiaAEKTiKtüTarauq).
Er meinte aber auch, der Ausdruck , Dialektik betreiben4 (öiaAeyeoöai) komme
daher, daß man bei gemeinsamen Erörterungen die Dinge nach Gattungen
(Gruppen) unterscheide (Kara ycvp). Man müsse also versuchen, sich beson-
ders dafür tüchtig zu machen und sich darum am meisten zu bemühen; denn
daraus erwüchsen die besten Männer, die zur Führung Geeignetsten und die
hervorragendsten Dialektiker (öiaAcKTiKtüTOTOuq). Daß er aber auch seine
Freunde in der Kunst der Dialektik förderte, das will ich ebenfalls noch darzu-
legen versuchen. Sokrates glaubte nämlich, wer wisse, was (seinem Wesen
nach) ein jeglicher Gegenstand (ein jedes Seiende) sei, der sei wohl auch
imstande, dies anderen auseinanderzusetzen; bei denen aber, die das nicht
wüßten, sei es keineswegs verwunderlich, wie er meinte, daß sie sich und
 
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