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Stellenkommentar GT 15, KSA 1, S. 101 309

andere täuschten. Daher ließ er nicht ab, gemeinsam mit seinen Freunden zu
betrachten, was seinem Wesen nach ein jeglicher Gegenstand (ein jedes Sei-
ende) sei“. (Übersetzung Peter Jaerisch).
Gegenüber dieser ethisch orientierten Darstellung der Dialektik im Hin-
blick auf Sokrates konzentriert sich Aristoteles, vor allem in den beiden Analy-
tiken, in seiner Topik, in der Metaphysik und in der Schrift Über die Hermeneu-
tik auf die formale und funktionale Ausarbeitung dialektisch-logischer
Denkoperationen (Methoden), der Prinzipien, von denen sie ausgehen, und
der Erkenntnis-Ziele, zu denen sie durch wissenschaftliche Begriffsbestim-
mung und Beweisführung hinführen können. Dabei ist im Hinblick auf Scho-
penhauers differenzierende und auf N.s polemisch abwertende Darstellung des
„Beweisens“ zu bemerken, daß laut Aristoteles alles durch Beweis vermittelte
Wissen von einer unmittelbaren und unabweisbaren Überzeugung ausgeht.
Beweisen läßt sich das, wovon jede Beweisführung ausgeht, nicht: es läßt sich
nicht aus einem Andern als seiner Ursache ableiten, doch läßt es sich im Gege-
benen als dessen Voraussetzung nachweisen, sodaß an die Stelle des Beweises
die Induktion tritt. Besonders unter dem Eindruck von Hegels, sich auf Aristo-
teles berufendem dialektischem Philosophieren hatte sich in den Jahrzehnten,
die N.s apodiktischen Wertungen vorangingen, eine intensive wissenschaftli-
che Beschäftigung mit der Logik und Dialektik des Aristoteles entwickelt, nach-
dem schon in der Antike und im mittelalterlichen Aristotelismus zahlreiche
Kommentare und Erörterungen hierzu entstanden waren.
Kant kritisiert in der Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage, 1787) die dialek-
tische Methode, insofern sie sich von aller Erfahrung löst, als „die Logik des
Scheins“ (B 86). Ein Echo darauf gibt eine Nachlaß-Notiz N.s (NL 1869/1870,
KSA 7, 3[36], 70, 12f.): „Die Dialektik als die Kunst des ,Scheines4 vernichtet
die Tragödie“. Vgl. 95, 24-26: „Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel
ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragödie“. Im Rückblick des Ecce homo
heißt es: „Meine Leser wissen vielleicht, in wie fern ich Dialektik als Deca-
dence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des
Sokrates“ (KSA 6, 265, 13-15).
101, 13-18 Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates als
der Lehrer einer ganz neuen Form der „griechischen Heiterkeit“ und Daseinsse-
ligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung
zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum
Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.] Die Begriffe „Heiter-
keit“ und „Daseinsseligkeit“ sind durch die entsprechenden griechischen
Begriffe yaApvT] und Evöaipovia unterlegt. Die Vorstellung von der „Entla-
dung“, die N. auch sonst gerne gebraucht, konnte er in der zeitgenössischen
gelehrten Literatur über die Katharsis-Lehre des Aristoteles finden. Mit der
 
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