Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0301
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 275

Den Habitus der „historischen Menschen“ (255) hält N. für problematisch,
weil der Primat des Historischen seines Erachtens die Möglichkeit lebendiger
Gegenwart unterminiert. Außerdem stellt er eine unreflektierte Inkonsequenz
in ihrem Verhalten fest, weil ihnen gar nicht bewusst sei, „wie unhistorisch sie
trotz aller ihrer Historie denken und handeln, und wie auch ihre Beschäftigung
mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntniss, sondern des Le-
bens steht“ (255). Zwar blickt N. mit Skepsis auch auf die „überhistorischen
Menschen“ (256), aber er konzediert immerhin, dass „sie mehr Weisheit besit-
zen, als wir“ (257). Ähnlich wie schon in der Geburt der Tragödie legt N. hier
ebenfalls ein sacrificium intellectus nahe. Denn er plädiert ausdrücklich dafür,
„den überhistorischen Menschen ihren Ekel und ihre Weisheit“ zu lassen, um
„unserer Unweisheit von Herzen froh [zu] werden“ (256). Diese Haltung sei der
„Weisheit“ der „Ueberhistorischen“ überlegen, sofern sie zu der Devise führe,
immer konsequenter „Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben!“ (257).
In der Schlusspartie des 1. Kapitels kontrastiert N. die tote Erkenntnis his-
torischer Phänomene, die infolge analytischer Durchdringung für den „Wissen-
den“ ihre Macht verloren haben (257), mit einer zukunftsorientierten histori-
schen Bildung, die nicht selbst dominiert, sondern „von einer höheren Kraft
beherrscht und geführt wird“ (257). Während die „Geschichte als reine Wissen-
schaft“ (257) wie ein Fazit die gesamte Menschheitsentwicklung abschließen
würde, favorisiert N. selbst mit Nachdruck eine Form von Historie, die von
vitalen Interessen geleitet ist, dadurch „im Dienste des Lebens steht“ (257) und
die Gesundheit des Individuums ebenso fördert wie die kulturelle Entwicklung
der Gesellschaft.
2.
An das horizontbildende Einleitungskapitel schließt das 2. Kapitel (258-265)
thematisch an. Hier geht N. von der in der Historienschrift geradezu leitmoti-
visch wiederholten These aus, „dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendi-
gen schade“ (258). Zunächst unterscheidet er drei Arten von Historie, die auf
jeweils spezifische Weise in den Dienst des Lebens treten können: „eine mo-
numentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Histo-
rie“ (258), auf die er anschließend ausführlicher eingeht. Diese einprägsame
Klassifikation trug zur breiten Wirkung von N.s Historienschrift maßgeblich
bei. Nachdem er zuerst die monumentalische Historie thematisiert hat (258-
264), wendet er sich der antiquarischen und der kritischen Historie zu (264-
270). In seiner Darstellung reflektiert N. sowohl die jeweiligen Vorzüge dieser
drei Arten von Historie als auch ihre Nachteile und die durch sie bedingten
Gefahren.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften