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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0303
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 277

psychologischer Eindringlichkeit dekuvriert N. die heimlichen Motive, die me-
diokre Existenzen hinter ihrer Maskerade verbergen: Durch vordergründige Be-
wunderung des vergangenen Großen versuchen sie ihren Hass auf „die Mächti-
gen und Grossen ihrer Zeit“ zu kaschieren (264). Und indem sie dabei der
Strategie folgen: „lasst die Todten die Lebendigen begraben“ (264), pervertie-
ren sie geradezu das Wirkungsprinzip der monumentalischen Historie. Auf die-
se Weise schaden sie der kulturellen Entwicklung in der Zukunft.
Dass N. der monumentalischen Historie dennoch einen besonderen Rang
zuspricht, erklärt sich auch aus seiner eigenen Präferenz für das große Indivi-
duum, für das Genie und den Helden. Diese Vorliebe zeigt sich bereits in N.s
Frühwerk und prägt sich später in seinem Entwurf des ,Übermenschen4 aus. In
UBIV WB fungiert „Grösse“ schon in der Anfangspartie als Leitbegriff, den N.
im ersten Satz besonders markant einführt: „Damit ein Ereignis Grösse habe,
muss zweierlei zusammenkommen: der grosse Sinn Derer, die es vollbringen
und der grosse Sinn Derer, die es erleben“ (KSA 1, 431). Im weiteren Verlauf
von UB IV WB reicht das Spektrum der „Grösse“ vom „Bayreuther Fest“ (KSA 1,
432) als monumentalem ,Ereignis4 über die Person Wagners und „die Grösse
seiner That“ (KSA 1, 432) bis zum hybriden Vergleich Wagners mit Alexander
dem Großen (KSA 1, 434).
Nach N.s Auffassung zielt die monumentalische Art von Historie keines-
wegs nur auf die Glorifizierung vergangener Größe. Ihren eigentlichen Sinn
erblickt er vielmehr im Zukunftspotential: Denn vergangene Größe kann Vor-
stellungen von künftiger Größe stimulieren. Wie der monumentalischen Histo-
rie ordnet N. auch den beiden anderen Arten von Historie spezifische Wir-
kungsbereiche zu. Um produktiv werden zu können, bedürfen sie der für sie
jeweils besonders geeigneten Rahmenbedingungen (264). Inwiefern Abwei-
chungen von den idealen Verhältnissen zu kontraproduktiven Entwicklungen
führen, versucht N. mithilfe biologischer Metaphorik zu demonstrieren (264-
265): Zum „verwüstenden Unkraut“ (264) pervertiere „der Kritiker ohne Noth,
der Antiquar ohne Pietät, der Kenner des Grossen ohne das Können des Gros-
sen“ (264-265).

3.
Ganz andere Interessen und Dispositionen als bei der monumentalischen His-
torie prägen die antiquarische und kritische Historie. Diese beiden Arten der
Geschichtsbetrachtung charakterisiert N. im 3. Kapitel (265-270). Die antiquari-
sche Historie des „Bewahrenden und Verehrenden“ (265) konserviert mit nos-
talgischer „Pietät“ (265) das Überkommene, verleiht dabei auch dem Kleinen
 
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