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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0304
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278 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

oder Beschränkten „eigene Würde“ (265) und gibt es an künftige Generationen
weiter. Aufgrund seiner starken Identifikation mit dem Geist der Vergangenheit
findet der antiquarische Historiker Gelegenheiten, auch im begrenzten Lebens-
umfeld von Stadt und Region Traditionen zu kultivieren und damit zugleich
seinen Beitrag für die Zukunft zu leisten.
Positiv beurteilt N. die Möglichkeiten, durch antiquarische Historie selbst
unter bescheidenen Lebensbedingungen eine Verwurzelung in „Heimat und
Heimatsitte“ zu erzielen (266) und dadurch den „furchtbaren Wirkungen aben-
teuernder Auswanderungslust“ und einem „rastlosen kosmopolitischen Wäh-
len und Suchen nach Neuem und immer Neuem“ vorzubeugen (266). Als prob-
lematisch bewertet N. den „ antiquarische [n] Sinn“ allerdings insofern, als mit
ihm „immer ein höchst beschränktes Gesichtsfeld“ und eine Verzerrung der
Verhältnisse verbunden sei (267). So könne das aus der Nähe wahrgenommene
Einzelne als isoliertes Detail in seiner Relevanz leicht überschätzt werden. Au-
ßerdem bestehe die Gefahr eines öden Relativismus, dem schließlich „alles
Alte und Vergangene“ als „gleich ehrwürdig“ gelte (267). Werde das Vergange-
ne aber ohne Rücksicht auf seine Bedeutung wahllos akkumuliert, dann sei
die Überfülle von Traditionsgütern mental nicht mehr zu bewältigen, so dass
Desorientierung entstehe.
Zugleich begünstigt die unkritische Verehrung der Relikte vergangener
Kulturen laut N. auch eine lähmende Skepsis gegenüber dem ,,Neue[n] und
Werdende[n]“ (267). Eine Entartung der antiquarischen Historie diagnostiziert
er, wenn die Ansammlung von „Urväter-Hausrath“ (265) das „widrige Schau-
spiel einer blinden Sammelwuth“ bietet, „eines rastlosen Zusammenscharrens
alles einmal Dagewesenen“ (268) - ohne jeden Bezug zum ,,frische[n] Leben
der Gegenwart“ (268). Wird die Tendenz zum Bewahren und Verehren unkri-
tisch verabsolutiert, so erweist sie sich seines Erachtens als kontraproduktiv,
weil alles Neue, Kreative und Zukunftsweisende vernachlässigt zu werden
droht. Statt sich durch ,Konservieren4 des Vergangenen auf konstruktive Weise
in den Dienst der Zukunft und damit des ,Lebens4 zu stellen, beschränkt sich
die antiquarische Historie dann auf ein bloßes Mumifizieren (268), bis der
Mensch in antiquarischem „Moderduft“ schließlich „mit Lust selbst den Staub
bibliographischer Quisquilien frisst“ (268).
Hier reflektiert N. ein gerade in der Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts dominantes Phänomen: die Gründung von Museen und Archiven, die
Ausbreitung von Geschichtsvereinen und die Entstehung zahlreicher Samm-
lungen aller Art. Hinzu kam damals die besonders im Bürgertum verbreitete
Tendenz zur Akkumulation von Traditionsgütern, die vielfach auch in provinzi-
ellen Liebhabereien Ausdruck fand. Die Skurrilitäten von Sonderlingsexisten-
zen, die diesen Habitus kultivierten, wurden oft sogar zum Sujet literarischer
 
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