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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0305
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 279

Gestaltung. Seit den 1850er Jahren verstärkte sich diese Tendenz immer mehr.
Sie wurde auch von pessimistisch-resignativen oder ironischen Zeitdiagnosen
begleitet. Einen Höhepunkt erreichte sie schließlich in Wilhelm Raabes Erzäh-
lungen und Romanen, beispielsweise in seinen Werken Wunnigel (1879), Stopf-
kuchen (1891) und Die Akten des Vogelsangs (1896). Vgl. dazu Grätz 2006, 431-
509.
Nicht allein N.s Ausführungen zur antiquarischen Historie sind auf vielfäl-
tige Weise in einem aktuellen Kontext situiert. Dies gilt auch für die monumen-
talische Historie. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichtete
man zahlreiche Denkmäler, die als Monumente einer historisierenden nationa-
len Erinnerungskultur fungierten. So war das große Schiller-Jubiläum im Jahre
1859, als man feierlich den 100. Geburtstag des Dichters beging, ein Ereignis
von nationaler Bedeutung. Auch zu diesem Anlass wurden viele Standbilder
aufgestellt. Im Unterschied zum antiquarischen Sammeln und Historisieren
dienten solche Monumente dazu, jene historisch verbürgte ,Größe4 zu inszenie-
ren, die N. in seinen Darlegungen zur monumentalischen Historie hervorhebt.
Im Hinblick auf N.s eigenes Rollenverständnis ist die kritische Historie von
besonderer Bedeutung, obwohl er sie im 3. Kapitel nur relativ knapp themati-
siert (269-270). Recherchen zur Entstehungsgeschichte von UB II HL legen die
Einschätzung nahe, dass N. sein Konzept der kritischen Historie in der ur-
sprünglichen Planung noch nicht vorgesehen hatte. Vermutlich hat er es erst
nach Mitte Dezember 1873, also gut zwei Monate vor der Publikation, noch in
die Schrift integriert, deren Entstehungsphase vom September 1873 bis zum
1. Januar 1874 reichte (vgl. Salaquarda 1984, 29). - Von einer nach methodisch
elaborierten Kriterien verfahrenden Geschichtsanalyse unterscheidet sich N.s
Charakterisierung der kritischen Historie: Er betrachtet sie als ein radikales, ja
ultimatives Gericht über die Vergangenheit, das zugleich die im Hinblick auf
vitale Interessen kontraproduktiven Wirkungen der antiquarischen Historie
ausgleichen soll. Der in diesem Sinne kritische Historiker fungiert als unerbitt-
licher Richter, der definitive Urteile fällt, und zwar „im Dienste des Lebens“
(269), das N. in seiner Historienschrift zum einzigen relevanten Bewertungs-
maßstab verabsolutiert. Unter dem Einfluss von Schopenhauers Willensphilo-
sophie und zugleich in einer Antizipation seiner eigenen späteren Vorstellun-
gen vom „Willen zur Macht“ definiert N. „das Leben“ hier bereits als einen
radikalen Machttrieb, der sich rücksichtslos durchsetzt: „Es ist nicht die Ge-
rechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier
das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, uner-
sättlich sich selbst begehrende Macht“ (269).
Vom „Gericht“ der kritischen Historie erhofft N. erweiterte Spielräume für
den Handelnden, der sich über eine ihn lähmende Pietät angesichts ehrwürdi-
 
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