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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0306
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280 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ger Traditionen hinwegsetzen muss, um neue Gestaltungsmöglichkeiten zu fin-
den. Dass das Urteil einer so verstandenen kritischen Historie allerdings kei-
neswegs unbedenklich ist, weil es auch destruktive Valenzen in sich birgt,
zeigt N.s Feststellung, es sei „immer ein gefährlicher“ Prozess; daher seien
auch die „Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass
sie eine Vergangenheit richten und vernichten“, stets „gefährliche und gefähr-
dete Menschen und Zeiten“ (270). Dennoch betont N. die Notwendigkeit eines
derartigen Umgangs mit der Vergangenheit, so „ungerecht“ er im Einzelfall
auch sein mag (269) und so schwierig mitunter das Maßhalten beim „Verneinen
des Vergangenen“ erscheint (270). - Vor dem Hintergrund der historischen
Bibelkritik, die im 19. Jahrhundert von Autoren wie Ernest Renan und David
Friedrich Strauß formuliert wurde, hält es N. für erforderlich, die kritische Ge-
schichtsbetrachtung insbesondere auf die Religion anzuwenden. Das macht
sein Plädoyer in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit der His-
torienschrift evident: „Das Christenthum ist ganz der kritischen Historie preis-
zugeben“ (NL 1873, 29 [203], KSA 7, 711).
Über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Arten der Geschichtsbe-
trachtung hinaus reflektiert N. auch die genealogischen Prägungen, die unaus-
weichlich den Habitus jedes Individuums mitbestimmen: Selbst dann, wenn
man „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben“ versucht, „aus
der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“ (270),
bleibt man an seine Entstehungsgeschichte gebunden. Vgl. dazu auch die kul-
turgeschichtliche Kontextualisierung in NK 270, 9-13.

4.
Im 4. Kapitel der Historienschrift (271-278) konzentriert sich N. auf die kritische
Zeitdiagnose, die in einigen Aspekten zuvor bereits punktuell von Bedeutung
war und den weiteren Duktus der Schrift dann (mit zahlreichen Redundanzen)
dominiert. Angesichts der historisierenden Kultur seiner Epoche formuliert N.
selbst ein ,unzeitgemäßes4 Verdikt über die Gegenwart, sofern die Hinwendung
zur monumentalischen, antiquarischen oder kritischen Historie nicht das „Le-
ben“ des Individuums oder der Gesellschaft fördere, sondern lediglich auf
zweckfreie Erkenntnis ziele und dadurch die eigentliche Aufgabe „im Dienste
der Zukunft und Gegenwart“ verfehle (271).
Mit einem programmatischen „Blick auf unsere Zeit“ leitet N. den zweiten
Absatz ein (271). Besondere Komplikationen sieht er in seiner eigenen Epoche
durch den Anspruch bedingt, „dass die Historie Wissenschaft sein
soll“ (271). Denn weil die Historie als „Wissenschaft des universalen Werdens“
 
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