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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0307
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 281

die Konsequenz hat, dass „alle Perspektiven“ bis „ins Unendliche hinein“
expandieren, bietet sie den Betrachtern ein „unüberschaubares Schauspiel“:
„alles was einmal war, stürzt auf den Menschen zu“ (272). Die gigantischen
Massen heterogener historischer Details überfordern sowohl das Gedächtnis
des Menschen als auch seine intellektuelle Verarbeitungskapazität und lassen
dadurch ein seelisches Chaos entstehen. Daraus sieht N. zugleich ein Spezifi-
kum des „modernen Menschen“ resultieren: die Diskrepanz von Innerem und
Äußerem (272). Infolgedessen bleibt das Übermaß historischen Wissens seines
Erachtens in der „Innerlichkeit“ verborgen und kann dann „nicht mehr als
umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv“ wirken, so dass die moderne
Bildung ihre Lebendigkeit und ihre Funktion als Handlungsimpuls einbüßt
(272-273).
Kritisch reflektiert N. die Selbstverständlichkeit, mit der die modernen
Menschen Bildung generell mit historischer Bildung identifizieren (273). Wäh-
rend die Hochkultur der griechischen Antike in ihrem Bildungsideal „einen
unhistorischen Sinn zäh bewahrt“ und dadurch Kreativität erst ermöglicht
habe (273), seien die modernen Menschen mit „unverdaulichen Wissensstei-
nen“ überfüllt (272) und dadurch „zu wandelnden Encyclopädien“ pervertiert
(274). Polemisch vergleicht N. die zur toten Last gewordene „moderne Bildung“
mit einem „Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren“ (274).
Deshalb betrachtet er als symptomatischen Typus der Epoche die „schwache
Persönlichkeit“ (274), in der sich eine problematische Diskrepanz zwischen In-
nerem und Äußerem, „zwischen Inhalt und Form“ manifestiere (274). Da unter
den Zeitgenossen ein diffuses „Bildungs-Gefühl“ dominiere (273), das nicht mit
Entschlusskraft gepaart sei, vergrößere sich dadurch auch der Abstand zur ge-
nuinen Kultur, die N. unter Rückgriff auf UB I DS (KSA 1, 163) als „Einheit des
künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ definiert
(KSA 1, 274). Kultur in diesem Sinne soll auf einer lebendigen Synthese von
Innerem und Äußerem basieren. Daher propagiert N. die „Vernichtung der mo-
dernen Gebildetheit zu Gunsten einer wahren Bildung“ (KSA 1, 275), wie er in
enger Anlehnung an Wagner schreibt (vgl. NK 334, 11-12).
Für besonders problematisch hält N. die Situation der Deutschen, die er
ironisch als das „berühmte Volk der Innerlichkeit“ charakterisiert (276): Durch
Persönlichkeitsschwäche, eine Opposition „von Inhalt und Form“ (275) sowie
durch Nachlässigkeit vor allem im Bereich der Mode und Architektur gekenn-
zeichnet, wendeten sich die auf ,Innerlichkeit4 fixierten Deutschen seines
Erachtens von der „Schule der Franzosen“ ab, trieben einen Kult der Natür-
lichkeit (275) und verwarfen äußere Form und „Convention“ zugleich „als Ver-
kleidung und Verstellung“ (275). Dabei folgten sie einer hemmungslosen „Be-
quemlichkeits-Sucht“ (275), die N. letztlich in innere Unordnung münden sieht.
 
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