Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0308
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
282 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

An die Stelle authentischer Empfindung trete dabei ein Hang zur „Abstraction“
(277), wie N. im Anschluss an Grillparzer meint. Diese Tendenz begünstige eine
unfruchtbare historische Büchergelehrsamkeit und schwäche zugleich die Pro-
duktivität des Individuums wie der Kultur insgesamt.
Durch konstruktive Kritik und scharfe Verurteilung der Missstände (278)
hofft N. die radikale Diagnose vermeiden zu können: „wir sind Alle durch die
Historie verdorben“, mit der zugleich „jede Hoffnung auf eine noch kommende
nationale Cultur“ vernichtet wäre (277). Entschieden plädiert er dafür, mit neu-
er Handlungsenergie Geist und Leben wieder zusammenzuführen (278), um
eine kulturelle Einheit zu schaffen. Denn diese hält er für wichtiger „als die
politische Wiedervereinigung“ (278).

5.
Das 5. Kapitel (279-285) konzentriert sich auf das anthropologische Resultat
des Historismus, den N. in „fünffacher Hinsicht“ als lebensfeindlich betrachtet
(279): Den Antagonismus von Innen und Außen, eine Schwächung von Persön-
lichkeit und Instinkt sowie eine naive Selbstüberschätzung der Epoche zählt
er ebenso zu den problematischen Folgen einer Übersättigung durch Historie4
wie lähmendes Epigonenbewusstsein, Selbstironie und Zynismus (279). Durch
diese Zeittendenzen sieht er nicht nur die Vitalität des Individuums bedroht,
sondern darüber hinaus auch die Lebensfähigkeit der gesamten Gesellschaft.
N.s kritische Diagnose lautet: „der moderne Mensch leidet an einer ge-
schwächten Persönlichkeit“ (279). Mit dieser generalisierenden Feststellung
lehnt er sich an Grillparzers Einschätzung der Deutschen an. In einem nachge-
lassenen Notat aus der Entstehungszeit der Historienschrift beruft sich N. mit
einem Zitat folgendermaßen auf ihn: „Grillparzer: ,Der Grundfehler des
deutschen Denkens und Strebens liegt in einer schwachen Persönlich-
keit, zufolge dessen das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Ein-
druck auf den Deutschen macht.4“ (NL 1873, 29 [68], KSA 7, 659.) Mit dieser Aus-
sage in seinen Studien zur Philosophie und Religion (Grillparzer: Sämmtliche
Werke, Bd. 8, 1872, 353), schließt Grillparzer seinerseits an Hegel an (vgl.
NK 274,18-19). - N. selbst plädiert mit Nachdruck für die starke Persönlichkeit:
„die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertra-
gen, die schwachen löscht sie vollends aus“ (283). - Eigentlich
müsste eine derartige destruktive Wirkung der Geschichte aber ganz im Sinne
von N.s Bekenntnis zu den ,starken Persönlichkeiten4 sein, das sich bei ihm
mit der Verachtung schwacher oder mediokrer Charaktere verbindet. Zur
„Schwäche der Persönlichkeit“ vgl. auch NK 285, 19.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften