Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0309
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 283

Die Persönlichkeitsschwäche des „modernen Menschen“ (279) analogisiert
N. mit der Konstellation des antiken ,,Römer[s] der Kaiserzeit“ (279), der infolge
fremder Einflüsse „bei dem kosmopolitischen Götter-, Sitten- und Künste-Car-
nevale entartete“ und seine Identität einbüßte (279). Mithin gilt N.s kritische
Perspektive nicht allein dem historisierenden Umgang seiner Zeitgenossen mit
der Vergangenheit; er problematisiert auch eine Ausweitung ins Horizontlose,
wie sie sich insbesondere im modernen „Fest einer Weltausstellung“ durch die
„historischen Künstler“ manifestiere (279). Wenn ein solches kosmopolitisches
Panorama an die Stelle begrenzter und dadurch Orientierung ermöglichender
Horizonte trete, degeneriere der Mensch zum unsicheren und passiven Zu-
schauer ohne Instinkt und Selbstvertrauen (279-280). Er suche seine Gier
„nach Historie“ durch immer neue „Reizmittel“ zu befriedigen (279) und entfer-
ne sich in dem Maße von der Sphäre des Erhabenen und der großen Tat (280),
wie er „ins Innerliche“ versinke und im agglomerathaften „Wust des Erlernten“
unterzugehen drohe (280). Schon im 1. Kapitel seiner Historienschrift hatte N.
betont, „jedes Lebendige“ könne „nur innerhalb eines Horizontes gesund,
stark und fruchtbar werden“ (251).
Durch die „Austreibung der Instincte durch Historie“ verflüchtigen sich
die Menschen „fast zu lauter abstractis und Schatten“ (280). Maskerade und
Rollenspiel ersetzen dann den authentischen Ausdruck der eigenen Persön-
lichkeit (280-283). So können die „modernen Menschen“ nicht einmal ihr „in-
nereis] Elend“ eingestehen, zu dessen Beseitigung eine kulturschöpferische
Therapie durch „Kunst und Religion“ nötig wäre (281). Ähnlich wie später in
UBIII SE plädiert N. bereits hier für ein wahrhaftiges Leben, das sich konse-
quent an philosophischen Prinzipien ausrichtet, ohne Rücksicht auf institutio-
nelle Zwänge zu nehmen (281-282). Nur so lasse sich eine Situation vermeiden,
die „eingefleischte Compendien“, „concrete Abstracta“ oder „historische Bil-
dungsgebilde“ anstelle lebendiger Menschen hervorbringe (283).
Als fragwürdig beschreibt N. die eunuchenhaft-sterile Objektivität (281,
284) solcher Historiker, die „nie selber Geschichte machen können“ (284). Ihre
Neutralität sieht er bis zu völliger „Subjectlosigkeit“ gesteigert (284) und daher
mit dem Anspruch auf freie Persönlichkeitsentfaltung nicht vereinbar. Die Spe-
zies der „Ewig-Objectiven“ und „historisch Neutralen“ (284) beschränke sich
darauf, Taten oder Kunstwerke biographisch zu kontextualisieren und zu sezie-
ren, so dass bei der Analyse bloße Deskription an die Stelle lebendiger Wir-
kung trete (284-285).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften