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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0310
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284 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

6.
Mit der im 5. Abschnitt bereits thematisierten Schwäche oder Stärke der Per-
sönlichkeit verknüpft N. am Anfang des 6. Kapitels (285-295) die Frage, ob der
Anspruch der Geschichtswissenschaft auf historische „Objectivität“ die „Stärke
des modernen Menschen“ signalisiere und zugleich durch ein besonderes „Ver-
langen nach Gerechtigkeit“ bedingt sei (285), oder ob es sich dabei um eine
gefährliche Illusion handle (285-286). Nach N.s eigener Überzeugung kenn-
zeichnet die Gerechtigkeit, die er „zur allerseltensten“ Tugend erklärt (286),
Menschen höchsten Ranges, welche „Wahrheit [...] nicht nur als kalte folgenlo-
se Erkenntniss“, sondern „als Weltgericht“ intendieren (286-287). Ein Wahr-
heitsstreben ohne Urteilskraft und tatkräftigen Willen zur Gerechtigkeit hinge-
gen kann laut N. leicht durch kontraproduktive Impulse kontaminiert werden,
etwa durch Neugier, Eitelkeit, Missgunst, Spieltrieb und Unterhaltungsbedürf-
nis (287).
Implizit kreist das 6. Kapitel um Leopold von Ranke, der ,Objektivität4 zum
Ideal erhoben hatte und als Leitfigur der zeitgenössischen Geschichtswissen-
schaft galt. Indem N. Rankes Objektivitätsideal ins Visier nimmt, greift er auf
eine eigene, schon zwei Jahre vor der Niederschrift von UB II HL notierte Refle-
xion zurück: „Gerade unserer Zeit, mit ihrer sich ,objektiv4, ja voraussetzungs-
los gebärdenden Geschichtsschreibung, möchte ich zurufen, daß diese »Objek-
tivität4 nur erträumt ist, daß vielmehr auch jene Geschichtsschreibung - soweit
sie nicht trockene Urkundensammlung ist - nichts als eine Beispielsamm-
lung für allgemeine philosophische Sätze zu bedeuten hat, von deren
W e r t h es abhängt, ob die Beispielsammlung dauernde oder höchst zeitweilige
Geltung verdient“ (NL 1871, 9 [42], KSA 7, 288).
Dieser Ansatz bestimmt das ganze 6. Kapitel der Historienschrift. Zwar
nennt N. Ranke hier nicht namentlich, aber unverkennbar zielt er auf ihn, in-
dem er gegen das Postulat der Objektivität polemisiert, von dem „berühmten
historischen Virtuosen“ spricht und dann sogar ein Ranke-Zitat in den Text
einfügt (291). N. selbst plädiert für einen künstlerischen Entwurf von Geschich-
te und distanziert sich damit zugleich deutlich von einem durch Berufung auf
Fakten fundierten positivistischen Anspruch auf »Objektivität4. Dem „histori-
schen Virtuosen der Gegenwart“ konzediert er zwar Empfindungsfülle und
Sensibilität für das Weltgeschehen, aber zugleich sieht er ihn „zum nachtönen-
den Passivum“ depotenziert, das nur noch eine vage Ahnung „jedes originalen
geschichtlichen Haupttones“ vermittle und die Leser zu „weichlichen Genies-
sern“ werden lasse (288).
Um der „Geschichte ihre Bedeutung“ zu verleihen (292), hält es N. folglich
für notwendig, sich der Vergangenheit nicht mit einem Objektivitätsanspruch
 
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