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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0311
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 285

zuzuwenden und sie an trivialen „Allerwelts-Meinungen des Augenblicks“ zu
messen (289). Vielmehr verlangt er vom Historiker eine „überlegene Kraft“ des
Richterurteils (289), vor allem aber „eine grosse künstlerische Potenz“, die er
als „ein schaffendes Darüberschweben“, ja sogar als „ein Weiterdichten an ge-
gebenen Typen“ imaginiert (292). - Diese Tendenz zur ästhetischen Transfor-
mation der Geschichte entspricht der prinzipiellen Abwertung von „Wissen-
schaft“ zugunsten der Kunst, die auch Richard Wagner in seinen theoretischen
Schriften proklamiert. Wagners Plädoyer für die Vorrangstellung der Kunst ge-
genüber der Wissenschaft wirkt schon in Die Geburt der Tragödie hinein und
findet über UBII HL hinaus auch in zahlreichen nachgelassenen Notaten aus
den frühen 1870er Jahren Ausdruck.
N. grenzt Objektivität von Gerechtigkeit ab, differenziert zwischen histori-
scher und künstlerischer Wahrheit (290) und negiert einen historischen Objek-
tivitätsanspruch. Er hebt das ästhetische Moment einer Geschichtsdeutung her-
vor, die reale Ereignisse projektiv überformt, um sie in einen teleologischen
Gesamtzusammenhang zu integrieren: „So überspinnt der Mensch die Vergan-
genheit und bändigt sie, so äussert sich sein Kunsttrieb - nicht aber sein Wahr-
heits-, sein Gerechtigkeitstrieb“ (290). Einerseits subsumiert der Historiker
heterogene Ereignisse insofern unter eine fiktive „Einheit des Planes“ (290),
andererseits erscheint ihm die unüberschaubare Konstellation aus unter-
schiedlichsten Einflüssen und einander durchkreuzenden Ursachen allzu-
leicht als Produkt des Zufalls (290-291).
N. selbst sieht die Aufgabe des Historikers nicht in der sachlich-neutralen
Darstellung der empirischen Fakten der Geschichte, sondern darin, ein „ge-
wöhnliches Thema [...] geistreich zu umschreiben“ und „zum umfassenden
Symbol zu steigern“, das „eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit
ahnen“ lässt (292). Indem „der ächte Historiker [...] das Allbekannte zum Niege-
hörten umzuprägen“ vermag (294), bietet er einen Gegenentwurf zur „objectiv
sich gebärdenden Gleichgültigkeit“ (293). Für legitim hält N. die Tätigkeit des
Historikers nur dann, wenn dieser dazu imstande ist, die Vergangenheit aus
der Perspektive einer kraftvollen Gegenwart zu deuten (293-294). Allein auf
der Basis souveräner Erfahrung könne er „errathen, was in dem Vergangnen
wissens- und bewahrenswürdig und gross ist“ (294). Die Zukunftsorientierung
erhebt N. also zum Leitprinzip der Historie: „Der Spruch der Vergangenheit ist
immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der
Gegenwart werdet ihr ihn verstehen“ (294). Erforderlich ist dafür allerdings ein
konstruktiver Zukunftsentwurf, mit dem die Zeitgenossen im festen Glauben
an die eigene Tatkraft zugleich den lähmenden „Aberglauben, Epigonen zu
sein“, überwinden können (295). Als Therapeutikum in dieser Hinsicht er-
scheint N. eine empathische Lektüre der „Geschichte grosser Männer“, insbe-
 
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