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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0312
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286 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

sondere unzeitgemäßer Kämpfernaturen (295), weil sie einen ,,unmodern[en]“
Heroismus stimuliere, mit dem sich die Krisensituation der Epoche überwinden
lasse.
Indem N. die Leitidee einer über Fakten und Analysen erhabenen „Kunst“
der Geschichtsschreibung expliziert, schlägt er in der Schlusspartie des 6. Kapi-
tels zugleich implizit eine Brücke zum Konzept der „monumentalischen Histo-
rie“ und damit zum 2. Kapitel seiner Historienschrift: Als Antidot gegen die
Missstände seiner eigenen Zeit empfiehlt er den griechischen Philosophen und
Historiker Plutarch, der bereits seit dem Humanismus zum Bildungskanon ge-
hörte. Traditionell galt die Plutarch-Lektüre als obligatorischer Bestandteil des
Erziehungswesens. In seinen Parallelen Lebensläufen vergleicht Plutarch be-
deutende Persönlichkeiten der griechischen und römischen Antike, beispiels-
weise Alexander den Großen und Cäsar. An diese humanistische Tradition, die
später ins Heroisch-Idealische stilisiert wurde, schließt N. ausdrücklich an.
Sein Schlussplädoyer im 6. Kapitel lautet: „Sättigt eure Seelen an Plutarch und
wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Mit ei-
nem Hundert solcher unmodern erzogener, das heisst reif gewordener und an
das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung
dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen“ (295). Auf diese Weise lässt N.
Plutarchs Helden zu unzeitgemäßen Vorbildern für den modernen Menschen
avancieren.

7.
Das 7. Kapitel (295-302) bietet ein Potpourri verschiedener Aspekte. N. betont,
die Historie dürfe nicht die Fähigkeit zur tatkräftigen Gestaltung der Zukunft
in Frage stellen. Denn „alles Lebendige“, „jedes Volk, ja jeder Mensch“ (298),
vor allem aber „der schaffende Instinct“ (296) benötige die „Illusion“, ja den
Wagnerschen „Wahn“ (298) und könne nur in einer „Atmosphäre“ gedeihen
(295-298). Dieses geheimnisvolle Fluidum, das die unerlässliche Vorausset-
zung für eine lebendige Existenz generell und für jedwede Form von Kreativität
speziell darstellt, sieht N. durch ein Übermaß historischen Wissens gefährdet.
Überlasse man etwa die Religion rückhaltlos dem Zugriff wissenschaftlicher
Erkenntnis und der „Wirkung einer historisirenden Behandlung“ (297), so wer-
de sie dadurch schließlich sogar „vernichtet“, weil sie auf eine „pietätvolle
Illusions-Stimmung“ essentiell angewiesen sei (296). In ähnlicher Weise könn-
ten die „lebendigen Wirkungen“ der Musik „gelähmt“ werden, wenn man die
Komponisten mit dem „gelehrten Wust des Biographischen überschüttet“
(298). - Obwohl N. zunächst mit „der Historie die Kunst“ kontrastiert, betont
 
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