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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0313
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 287

er anschließend sogleich die Möglichkeit einer Versöhnung, „wenn die Historie
es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu werden“;
diese fruchtbare Synthese sieht er allerdings in diametralem Gegensatz zum
„analytischen und unkünstlerischen“ Zeitgeist seiner eigenen Epoche (296).
Ein weiterer Schwerpunkt des 7. Kapitels gilt dem akademischen Habitus:
Wenn die moderne Wissenschaft das Leben zu beherrschen beginnt, dann wird
es für die Zukunft geschwächt (298-299). In der „Fabrik der allgemeinen Utili-
täten“ (299) opfere man die persönliche Reifung dem „ökonomischen“ Nutzen
(301). Und in der „wissenschaftlichen Fabrik“ (300) vollziehe sich eine atem-
lose Hetzjagd „durch alle Jahrtausende“ (299). N. parallelisiert sie mit dem
Kunstkonsum des modernen Menschen: „So aber wie der junge Mensch durch
die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hö-
ren wir Concerte“ (299). Durch „die Masse des Einströmenden“ (299) überfor-
dert, durch permanente Reizüberflutung orientierungslos geworden und einer
universellen Skepsis ausgeliefert, gerate der Mensch schließlich in einen Zu-
stand „schwermüthiger Gefühllosigkeit“ (300). Durch ein „betäubendes und
gewaltsames Historisiren“ (300) sieht N. nicht nur die Menschen gefährdet,
sondern auch die „Fabrik“ der Wissenschaft selbst, in deren Dienst die gelehr-
ten „Sclaven“ radikal funktionalisiert (300) und „zu den Zwecken der Zeit ab-
gerichtet“ würden (299). Mit seiner Fabrik-Metaphorik schließt N. an Schopen-
hauer an, der die menschliche „Fabrikwaare“ verachtete, also den mediokren
Durchschnittsmenschen (vgl. WWV I, § 36, Hü 220; PP I, Hü 189, 209; vgl. dazu
auch NK 300, 25-29 und NK 338, 5-7).
Dem hektischen Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit schreibt N. Mittelmäßig-
keit, forciertes Spezialistentum, blasierte Selbstüberschätzung und einen Pro-
duktionsstress zu, durch den die Gelehrten „erschöpften Hennen“ gleichen
(301). Unter diesen Bedingungen können sie sich nicht zu harmonischen und
ganzheitlichen Persönlichkeiten ausbilden (300-301). In der jüngsten Gelehr-
tengeneration sieht er noch den Typus der „Kärrner“ hinzukommen, die „das
Genie als überflüssig decretirt“ haben und sich am liebsten an seine Stelle
setzen möchten (301). Darüber hinaus betont N. eine Tendenz zum ,„Populari-
siren‘ (nebst ,Feminisiren‘ und ,Infantisiren‘) der Wissenschaft“ und damit eine
problematische Anbiederung an den Geschmack des äußerst heterogenen Pub-
likums (301).
An Wagners spätromantischer Volksideologie orientiert sich N., wenn er
sich in der Schlusspassage des 7. Kapitels dem „Volke“ und „seiner „Zukunft“
zuwendet (302) und emphatisch erklärt: „Schafft euch den Begriff eines Vol-
kes4: den könnt ihr nie edel und hoch genug denken“ (302). Zwar lässt sich
diese Aussage im Kontext der Historienschrift mit N.s Distanz zum Wissen-
schaftsbetrieb, zum Habitus des Gelehrten und zu akademischen Popularisie-
 
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