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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0314
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288 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

rungsversuchen erklären. Aber zugleich ergibt sich eine Inkonsistenz, weil N.s
Enthusiasmus für das Volk seiner Vorliebe für einen monumentalischen Herois-
mus widerspricht. Denn am Ende des vorangegangenen 6. Kapitels hat er mit
Plutarch noch die „Helden“ favorisiert (295) und damit eine ideale Sphäre mo-
numentaler Vorbilder zu etablieren versucht. Auch vor diesem Hintergrund er-
scheint ihm das ,Volk‘ zur bedeutungslosen ,Masse4 depotenziert. (Zu dieser
Problematik vgl. auch den Abschnitt 8 im Kapitel II.9 des Überblickskommen-
tars.)
Diese pejorative Wertung wirkt bis ins 9. Kapitel der Historienschrift weiter,
in dem sich N. mit einem Gestus der Verachtung gegen eine Geschichtsschrei-
bung „vom Standpunkte der Massen“ ausspricht (319) und stattdessen nach-
drücklich für eine auf,Größe4 und auf die „grossen Männer“ als Vorbildfiguren
angelegte monumentalische Historie plädiert: „Die Massen scheinen mir nur
in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Co-
pien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten
hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen und endlich als Werk-
zeuge der Grossen; im Uebrigen hole sie der Teufel und die Statistik!“ (320).
Vor dem historischen Horizont des im 19. Jahrhundert heraufkommenden in-
dustriellen Massenzeitalters erweisen sich die ,unzeitgemäßen4 „Helden“ und
„grossen Männer“ als antimoderne Gegenprojektionen N.s.

8.
Im 8. Kapitel (302-311) liegt der Schwerpunkt auf einem zentralen Epochenthe-
ma des 19. Jahrhunderts, das N. bereits in der Geburt der Tragödie traktiert hat
und in seinen Spätschriften dann bis zur Diagnose der Decadence steigern
wird: auf der Problematik der Epigonalität. N. verbindet sie mit der „Historie“,
indem er der Geschichtsschreibung eine retrospektive Funktion zuschreibt,
weil sie die eigene Gegenwart nur noch als Spätzeit zu interpretieren vermag
und die Zeitgenossen so zu bloßen Epigonen depotenziert. Als kontraproduktiv
für die kulturelle Entwicklung betrachtet er demzufolge die Vorstellung, Erzie-
hung und Bildung sollten „überwiegend historisch sein“ (303). Mehrmals wirft
N. der „historischen Bildung“ vor, sie beschränke sich auf „greisenhafte“ Ret-
rospektive (303) und sei dabei im „lähmenden Glauben an eine bereits abwel-
kende Menschheit“ befangen. Diese Haltung assoziiert er mit dem mittelalterli-
chen „memento mori“ (304) und mit der „christlich theologischen Vorstellung“
eines nahen Weitendes (304). Daher erscheint ihm „Historie immer noch [als]
eine verkappte Theologie“ (305). Demgegenüber plädiert N. selbst entschieden
für ein „memento vivere als Wahlspruch“ (305).
 
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