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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0315
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 289

Für eine durch problematische Zeittendenzen bedingte Fehlentwicklung
hält N. die Hoffnungslosigkeit und Passivität derer, die alles „Werdende“ ab-
lehnen und jeden kreativen Aufbruchsimpuls (304) von vornherein durch „das
Gefühl des gar zu Ueberspäten und Epigonenhaften, kurz der angeborenen
Grauhaarigkeit“ hemmen (305). Der „am historischen Fieber Erkrankte“
scheint laut N. allenfalls dann zum Handeln noch fähig zu sein, wenn sein
historischer „Sinn intermittirt“, allerdings hindert er seine Tat dann „am Wei-
terwirken“, weil er sie sogleich analytisch seziert (305). Den Begriff des „Epigo-
nen“ variiert N. im Verlauf des 8. Kapitels mehrfach durch die Synonyme
„Nachkommen“ und „Spätlinge“. Zuvor hat er bereits im 6. Kapitel der Histori-
enschrift den emphatischen Appell an seine Zeitgenossen gerichtet: „Formt in
euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglau-
ben, Epigonen zu sein“ (295).
Mit diesem Imperativ nimmt N. auf ein seit den 1830er Jahren virulentes
Epochensyndrom Bezug. Schon seit Immermanns Roman Die Epigonen (1836)
war der Begriff ,Epigone4 zu einem Leitbegriff der Kulturkritik avanciert. Vgl.
dazu NK zu UB I DS (KSA 1, 169, 15-18), UB III SE (KSA 1, 344, 31-34) und GT
(KSA 1, 75, 29-30). Sowohl in literarischen Werken als auch in kulturkritischen
Schriften konnte N. außerdem der Begriff ,Nachkomme4 begegnen, die deut-
sche Version des ursprünglich altgriechischen Epigonenbegriffs. Eine einschlä-
gige Formulierung von Wilhelm Wackernagel zitiert er in der Historienschrift
(306). - N.s Feststellung „Solche Spätlinge freilich leben eine ironische Exis-
tenz: die Vernichtung folgt ihrem hinkenden Lebensgange auf der Ferse“ (307)
schließt an sein Fazit am Ende des 7. Kapitels an: „so empfinden sie und leben
eine ironische Existenz“ (302).
Auch durch eine teleologische Umdeutung der Misere zur angeblichen
„Vollendung der Weltgeschichte“ im Sinne „der Hegelischen“ Philosophie
(308) lässt sich laut N. ein Epigonen-Bewusstsein nicht rechtfertigen. Kritisch
beleuchtet er den Fatalismus Hegels, der zu einer irrationalen Ehrfurcht vor
der „Macht der Geschichte“ und zur Apotheose „des Thatsächlichen“ animiere
(309) , eine obrigkeitshörige Haltung fördere (309) und eine affirmative Einstel-
lung gegenüber der Geschichte sogar dann nahelege, wenn sich diese als
„Compendium der thatsächlichen Unmoral“ erweise (310). Das Verhalten der-
artiger Apologeten der historischen Faktizität sieht N. durch Ignoranz be-
stimmt (310). Er selbst reagiert auf diese Fehlhaltungen, indem er ein energi-
sches Aufbegehren „gegen jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei
des Wirklichen“ propagiert (311). Dabei ist er von der Hoffnung auf ein „neues
Geschlecht“ heroischer Kämpfernaturen erfüllt (311), die an Vorbilder aus „der
altgriechischen Urwelt des Grossen, Natürlichen und Menschlichen“ anknüp-
fen (307) und konstruktive Impulse für die Zukunft geben können.
 
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