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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0316
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290 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

In entschiedener Abgrenzung vom Habitus der „Antiquare und Todtengrä-
ber“, die als „verblasste und verkümmerte Spätlinge kräftiger Geschlechter [...]
ein fröstelndes Leben fristen“ (307), plädiert N. selbst am Ende des 8. Kapitels
für „Erstlinge“ (311) einer neuen Zeit, die an das kulturelle Erbe der Vergangen-
heit produktiv anzuschließen vermögen und für die Gegenwart „etwas Neues,
Mächtiges, Lebenverheissendes“ (306) als kreativen Spielraum entdecken. Im
Kampf „gegen die Geschichte“, mithin „gegen die blinde Macht des Wirk-
lichen“ (311), könne das Epigonen-Gefühl durch eine energische Zukunftsori-
entierung überwunden werden (307). Erforderlich sei dafür allerdings eine
umfassende kritische Standortbestimmung: „der Ursprung der historischen Bil-
dung [...] muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss
das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel
gegen sich selbst kehren - dieses dreifache Mu s s ist der Imperativ des Geistes
der ,neuen Zeit“4 (306).

9.
Am Anfang des 9. Kapitels (311-324) knüpft N. zunächst an die zuvor entfaltete
Wunschvorstellung an, indem er sich skeptisch fragt, ob gerade die aktuelle
Epoche im Sinne einer solchen Zukunftsorientierung Erstlingscharakter haben
könne. Zwar gesteht er dem modernen Menschen eine besondere Intensität, ja
„Vehemenz“ und Universalität des „historischen Sinnes“ zu (311). Aber den
Stolz, mit dem der zeitgenössische Menschentypus als angeblich „vollendete
Natur“ gleichsam „auf der Pyramide des Weltprozesses“ zu stehen glaubt (313),
sieht N. in markantem Kontrast zur Melancholie einer „abendlichen Stim-
mung“, die von der „Furcht“ bestimmt ist, nichts von den „Jugendhoffnungen
und Jugendkräften in die Zukunft retten zu können“ (312). Diese Einstellung
kann sogar von hilfloser Selbstironie oder von zynischem Fatalismus begleitet
sein (312). Laut N. stilisiert sich der moderne europäische Mensch zur „reifsten
Frucht am Baume der Erkenntniss“ (312), verkennt dabei jedoch, dass er mit
seinem „Wissen“ lediglich die eigene Natur vernichtet (313), weil er durch Intel-
lektualisierung und unaufhörliches „Historisiren alles Gewordenen“ zugleich
das stabile Fundament einer existentiellen Orientierung verliert (313).
N. versucht auf diese Problemkonstellation mit dem „glänzenden Zauber-
spiegel eines philosophischen Parodisten“ zu reagieren (313): Der Zeit-
geist mache einen „Ruck zur Selbstironie“ (313) - in Gestalt von Eduard von
Hartmanns Bestseller Philosophie des Unbewußten. Mit ausgiebigen polemi-
schen Tiraden, die an Schopenhauers Invektiven gegen Hegel erinnern, wettert
N. anschließend gegen die Philosophie des Unbewußten (314-324): Er unter-
 
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