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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0317
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 291

stellt Eduard von Hartmann „philosophische Schelmerei“ (314) und die „Paro-
die aller Welthistorie“ (314), wenn dieser seine Leser aus dem „Inspirations-
Borne des Unbewussten“ (314) ernsthaft über den gesamten Weltprozess und
die Aufgabe der gegenwärtigen Generation in ihm aufzuklären suche. Ohne die
skeptischen und pessimistischen Distanzierungen in Eduard von Hartmanns
Zeitdiagnose zu berücksichtigen, meint N., dieser legitimiere die „erschrecken-
de Verknöcherung der Zeit“ (314) und vertrete die Ansicht, die Menschheit nä-
here sich gleichsam ihrem „Mannesalter“, einer Phase, in der „gediegene Mit-
telmässigkeit“ herrsche (315), die Kunst nur noch der Zerstreuung diene und
man auf „Genies“ zugunsten einer sozialen Progression verzichte, die dem ar-
beitenden Volk komfortablere Lebensverhältnisse sichere (315).
Eine solche Entwicklung zur Mediokrität sieht N. zwangsläufig auf den
„Ekel“ zulaufen (315), obwohl Eduard von Hartmann selbst „Erlösung“ durch
den „Weltprozess“ in Aussicht stelle (315), und zwar durch die affirmative
„Hingabe der Persönlichkeit“ an diesen und durch „die Bejahung des Willens
zum Leben“ (316). N. polemisiert entschieden gegen „Ausschweifungen des
historischen Sinnes“ und die „Lust am Prozesse auf Unkosten des Seins und
Lebens“ (319). Spöttisch nimmt er auf Eduard von Hartmanns Auffassung Be-
zug, die menschliche Gattung nähere sich dem Idealzustand, in dem sie „Ge-
schichte mit Bewusstsein macht“ (316). N. plädiert für die Abkehr vom „Eulen-
Ernste“ Hartmanns und schlägt einen engagierten Kampf mit „Heiterkeit“ vor,
um die Welt „vorwärts“ zu bringen und einem Idealzustand anzunähern (317).
Dabei gilt sein Interesse nicht primär der menschlichen Gattung, sondern
den seltenen genialen Existenzen: Analog zu Schopenhauers Vorstellung von
einer „Genialen-Republik“ sieht N. die exzeptionellen Individuen über die me-
diokren Massen hinweg in einem fruchtbaren „Geistergespräch“ miteinander,
das „zeitlos-gleichzeitig“ stattfindet (317). Die Geschichte könne dabei als pro-
duktive „Mittlerin“ fungieren, sofern sie das Potential zur „Erzeugung des
Grossen“ fördere und der Menschheit dazu verhelfe, „in ihren höchsten Ex-
emplaren“ ihr eigentliches Telos zu erreichen (317). Nur durch ein „hohes und
edles“ Lebensziel lasse sich die eigene Existenz „rechtfertigen“ (319). Für kon-
traproduktiv hält N. hingegen die Tendenz von Zeitgenossen, die Masse, die er
selbst als „gemein und ekelhaft uniform“ diffamiert (320), als die entscheiden-
de „historische Macht“ zu betrachten (320) und „die Geschichte vom Stand-
punkte der Massen zu schreiben“ (319). Wenn diese Perspektive dominiere,
verwechsle man Qualität mit bloßer Quantität und übersehe zugleich, dass die
schlichte Massenwirksamkeit einer Idee keineswegs als Indikator für ihre Ex-
zellenz gelten kann.
Am Ende des 9. Kapitels betont N. emphatisch „das Recht unserer Ju-
gend“, weil sie die „Zukunft“ garantiere (322). Allerdings drohe „die Historie“
 
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