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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0354
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328 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

hat. In Richard Wagner war ihm die Kulturmission des Künstlers erschienen; er verlegte
sie nicht in diesen hinein, hat doch Wagner selbst sich in diesem Sinne gefühlt, aber die
Grenzenlosigkeit, Ausschließlichkeit, in welcher er nun im Künstler den einzigen Men-
schen und Schöpfer sah, die Blindheit gegen die Grenzen dieser Gestalt des Lebens, muß-
te ins Gegenteil umschlagen. So blieb ihm weder aus dem Erleben jener ersten Zeit noch
aus seiner sokratisch gestimmten zweiten Periode etwas Positives übrig. Gerade das Gren-
zensetzen war ihm an Kant zuwider. So ist denn auch der dritte Standpunkt: der wert-
schaffende Philosoph wieder ein Unbedingtes, Grenzenloses. Der Philosoph soll das Ge-
fühl von dem positiven Werte des Lebens in der Menschheit steigern und dadurch
reformatorisch auf sie wirken. Nun haben ja aber Thrasymachus und Kritias, Spinoza
und Hobbes, Feuerbach und Stirner die Bejahung des Willens und seiner Macht so stark
ausgesprochen, daß die Geschichte Nietzsches nicht bedurfte; zu schweigen von all de-
nen, welche als Künstler oder Menschen der Tat diesem Ideal nachgelebt haben. Daher
es für diese wertschaffenden und wertsetzenden Philosophen sich doch nur darum han-
deln kann, auszusprechen, was in dem, was der Wille zu leben von bunten Gestalten
hervortreibt, das Wertvolle sei. Hierauf geben die Stellen Nietzsches keine Antwort; sie
sagen nichts über die Methode, nach welcher dieser neue Saggiatore, der den Galilei hin-
ter sich läßt, verfahren soll“.
Anschließend nimmt Dilthey mit Zitaten aus Jenseits von Gut und Böse und Zur
Genealogie der Moral auf das asketische Ideal und auf Wertsetzungen N.s Be-
zug (ebd., 163). - Ganz im Sinne von N. und Schopenhauer (vgl. dazu das
Kapitel III.4 im Überblickskommentar zu UB III SE) plädiert Dilthey in seinem
Buch Weltanschauungslehre allerdings auch entschieden für die Abkehr von
„bloße[r] Kathederphilosophie“ und für einen zeitgemäßen diesseitsorientier-
ten, mithin anti-idealistischen, dem wissenschaftlichen Fortschritt Rechnung
tragenden „Wirklichkeitssinn“ (Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 8,194). Die-
ser „Wirklichkeitssinn“ soll „das Problematische des Lebens“ (ebd., 195), die
vielfältigen zivilisatorischen Umbrüche in der Moderne sowie die daraus resul-
tierende „Ratlosigkeit des Geistes“ angesichts der „Relativität aller geschichtli-
chen Überzeugungen“ und „jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin“
(ebd., 198) reflektieren. Dabei macht Dilthey auch den sprachlichen Ausdruck
der „diesem modernen Bedürfnis“ gemäßen Denkweise zum Thema, indem er
erklärt: „Der gemischte Stil von Schopenhauer, Mommsen und Nietzsche wirkt
stärker als das Pathos von Fichte und Schiller“ (ebd., 195). Vor dem Hinter-
grund der umfassenden kulturellen Krisensituation spricht Dilthey sogar von
einer zunehmenden „Skepsis“, die in „Anarchie des Denkens“ münde,
und bezieht sich dabei ausdrücklich auch auf die Basis von N.s Kulturkritik
in einer Epoche der Orientierungslosigkeit, in der „alle Maßstäbe aufgehoben
worden sind“ und ein „Spiel mit grenzenlosen Möglichkeiten“ (ebd., 198) eben-
so naheliegt wie die Suche nach neuen sinnstiftenden Werten.
Gerade mit der Abkehr von der obsolet gewordenen „metaphysische [n] Ka-
thederphilosophie“ (ebd., 200) erklärt Dilthey die Aktualität der „Lebensphilo-
 
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