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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0355
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 329

sophie“, die durch N. und andere Denker seiner Generation „zur herrschenden
Macht geworden“ sei: „Es ist die Stärke dieser Lebensphilosophie,
daß ihr direkter Bezug auf das Leben in metaphysischer Vorurteilslosigkeit“
das Wahrnehmungspotential „in diesen Denkern verstärkt“ (ebd., 201). Aller-
dings gibt Dilthey zugleich kritisch zu bedenken, N. habe vergeblich „die ur-
sprüngliche Natur“, ein „geschichtsloses Wesen“ gesucht und dabei doch nur
„ein geschichtlich Bedingtes“ gefunden: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur
seine Geschichte“ (ebd., 224). Deren Ambivalenz pointiert Dilthey, indem er die
unhintergehbare Relativität alles Historischen feststellt, mit der er „eine gehei-
me Wirkung von Auflösung, Skeptizismus, kraftloser Subjektivität“ verbunden
sieht (ebd., 167), welche die konstruktive Gestaltung der Zukunft erschwere.
Vor diesem kulturkritischen Hintergrund charakterisiert Dilthey das Epochen-
problem und die ihm inhärenten Herausforderungen folgendermaßen: „Die Re-
lativitäten müssen mit der Allgemeingültigkeit in einen tieferen Zusammen-
hang gebracht werden. Das mitfühlende Verstehen alles Vergangenen muß zu
einer Kraft werden, das Künftige zu gestalten“ (ebd., 167). Und wenn Dilthey
die Zukunftsperspektive in seiner Schrift Zur Weltanschauungslehre in die Apo-
strophe münden lässt „Ja, meine Freunde, lasset uns dem Licht zustreben [...]“
(ebd., 224), dann wählt er mit dieser Anredeform einen Sprachgestus verbaler
Vergemeinschaftung, für den sich in den Werken N.s etliche Belege finden. N.,
den Dilthey hier im näheren Kontext sogar namentlich nennt, gebraucht diese
Formulierung „Ja, meine Freunde“ auch selbst (KSA 1, 132, 10-11; KSA 3, 563,
21).
Skeptisch bewertet Dilthey N.s Perspektiven auf die Historie und auf den
kulturellen Stellenwert des ,Genius4: Seines Erachtens blieb N. „in der Benut-
zung historischer Tatsachen für das Verständnis der Zweckzusammenhänge
der Kultur vollständiger Dilettant, zugleich aber hat er das Individuum kraft
seines ersten Ausgangspunktes, nämlich des Kultus des Genius und der großen
Männer isoliert“, weil er dessen Zweck „von der Entwicklung der Kultur“ gelöst
habe; „denn ihm sind die großen Männer nicht nur die bewegenden Kräfte,
sondern auch die eigentliche Leistung des geschichtlichen Prozesses“ (Dilthey:
Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1931, 164). Mit diesen (von ihm selbst nicht kon-
kret begründeten) Einschätzungen spielt Dilthey kritisch auf Konzepte in N.s
UBII HL an. Wenn er allerdings das „Vermögen, Vergangenheiten wieder zu
beleben“, mit einer „Kraftlosigkeit des menschlichen Geistes in eigenem festen
Willen, das Zukünftige zu gestalten“, einhergehen sieht (ebd., 166), dann kor-
respondieren seine kulturkritischen Perspektiven tendenziell mit den Epochen-
diagnosen, die N. in seiner Historienschrift entfaltet und hier (in Anlehnung an
Grillparzer) mit dem Negativetikett ,Persönlichkeitsschwäche4 verbindet. Und
analog zu N.s Konzept in UB II HL richtet sich auch Diltheys Blick letztlich
 
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