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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0356
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330 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

auf „unser Fortschreiten in der Zukunft“ im Dienste einer Höherentwicklung
„menschlicher Kultur“ (ebd., 167). Positiver als N. sieht Dilthey allerdings die
Funktion historischer Orientierungen. Denn er erblickt die „Fülle lebendiger
Möglichkeiten menschlichen Daseins“ allein im „geschichtlichen Bewußtsein“,
aus dem dann auch „konkrete Ideale einer Zukunft“ abzuleiten seien: „Die
Totalität der Menschennatur ist nur in der Geschichte“ (ebd., 166).
Ein wirkungsgeschichtlich bedeutsames Buch über N. publizierte der zwei
Jahre ältere, damals bereits berühmte dänische Literaturkritiker und Philosoph
Georg Brandes, dem N. seine Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur
Genealogie der Moral zugesandt hatte (vgl. Brandes 2004,112). Er trug seit 1888
durch seine Vorlesungen über N. maßgeblich zu dessen Bekanntwerden und
zur Rezeption seiner Werke bei. Die N.-Vorlesungen von Brandes fanden Ein-
gang in sein Buch Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen
Radikalismus, das 1889 zunächst in dänischer Sprache und später auch in
deutscher Übersetzung erschien. Im Anhang dieses Buches veröffentlichte
Brandes aus der Korrespondenz mit N. zwölf Briefe, die dieser im Zeitraum von
Dezember 1887 bis Januar 1889 an ihn gerichtet hatte. Nachdem Brandes ihm
einen aristokratischen Radikalismus4 bescheinigt hatte, reagierte N. am 2. De-
zember 1887 enthusiastisch auf diese briefliche Charakterisierung: Er bezeich-
nete den Begriff „aristokratischer Radikalismus“ als „sehr gut“, ja sogar als
„das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe“ (KSB 8,
Nr. 960, S. 206). In diesem Zusammenhang stellt Henning Ottmann fest:
„Nietzsches Ideale sind stets ,aristokratische4 gewesen, und man kann mit
Brandes Nietzsches ganze Philosophie einen aristokratischen Radikalismus4
nennen. Immer hat Nietzsche ,elitistisch4 gedacht, gegen den demokratischen
Geist der Zeit“ (Ottmann, 2. Aufl. 1999, 271). Zu begrifflichen Differenzierungen
und zur Wirkungsgeschichte des ,aristokratischen Radikalismus4, den Brandes
nicht nur N., sondern auch Heinrich Heine zusprach, sowie zum Zusammen-
hang mit Avantgarde-Konzepten seit dem Fin de siede vgl. Benne 2012, 407-
426.
Bereits in seiner ersten Vorlesung über N. an der Universität Kopenhagen
vertrat Brandes 1888 Auffassungen, die den von N. schon in UB II HL (und
dann auch in späteren Schriften) vertretenen Konzepten entsprechen: nämlich
eine geistesaristokratische Ausrichtung und das Ideal einer Erziehung zur Un-
zeitgemäßheit. - N. formuliert am Ende seines Vorworts zu UB II HL das pro-
grammatische Bekenntnis, er wolle, ausgehend von seinen eigenen „unzeitge-
mässen Erfahrungen“ als „classischer Philologe“, „gegen die Zeit und dadurch
auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit“ wirken (247,
5-11). Diese Zielsetzung N.s, die dem Basiskonzept der Unzeitgemässen Be-
trachtungen insgesamt entspricht, propagiert auch Georg Brandes in seiner ers-
 
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