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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0401
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 375

dem „Historismus“. Dessen Problematik sieht er darin, dass angesichts der
Überfülle geschichtlicher Fakten eine strukturschaffende „theoretische Arma-
tur“ fehlt (ebd., 702).
Unter diesen Prämissen beleuchtet Benjamin auch die „Monumente eines
Geschichtsbewußtseins“ (ebd., 702) und „die Gabe“ der „Geschichtschreiber“,
„im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen“ (ebd., 695). Benjamin
weist ihnen jedoch eine andere Funktion zu als diejenige, die N. in UB II HL
der ,monumentalischen Historie4 zuschreibt. Demzufolge divergieren die Per-
spektiven auf die Zukunft bei N. und Benjamin beträchtlich. Denn N. verbindet
sein Konzept der ,monumentalischen Historie4 mit elitären Hoffnungen, indem
er im Anschluss an Schiller (vgl. NK 259, 9-32) und Schopenhauer (vgl. NK 317,
12-22) einen „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende“ als geistesaristo-
kratische Zielprojektion entwirft (259, 13-14). Benjamin hingegen betont, für
jede Epoche gelte es, „die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzu-
gewinnen“, aber ohne dass dabei Objektivität um ihrer selbst willen in den
Fokus rücke. Zwar ist Benjamin analog zu N. vom Primat der Interessen des
Lebens vor historischer Faktizität überzeugt, aber er begründet seine Priorität
mit einer andersartigen Argumentation: Wenn er betont, es gehe nicht bloß
darum, zu „erkennen ,wie es denn eigentlich gewesen ist4“ (Benjamin 1974,
695), dann distanziert er sich zwar wie N. vom Postulat des historischen Objek-
tivismus, aber keineswegs im Sinne eines unpolitischen Vitalismus oder eines
,monumentalischen’ Geistesaristokratismus, sondern aus sozialen Gründen:
Denn der Fokus seines Interesses richtet sich dabei - anders als bei N. - auf
die Chancen der unter den „Herrschenden“ leidenden unterdrückten Bevölke-
rungsmehrheit „im Klassenkampf“ (ebd., 694).
In der Forschungsliteratur zu UB II HL wurde die Aktualität von N.s Histo-
rienschrift für das 20. Jahrhundert wiederholt betont. So gilt N. allgemein als
Vordenker bzw. als wichtiger Vertreter der Lebensphilosophie (vgl. dazu u. a.
Schnädelbach 1983,192-193). Vitalistische Konzepte vertraten u. a. Henri Berg-
son, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel sowie Ludwig Klages, Oswald Spengler
und Theodor Lessing, die sich entschieden gegen eine einseitige Fixierung auf
die Rationalität wandten. In Opposition zum Neukantianismus und zum mate-
rialistischen Weltbild des naturwissenschaftlichen Positivismus hob die Le-
bensphilosophie die Dynamik des Lebens in seinem kontinuierlichen Entwick-
lungsprozess hervor. Otto Friedrich Bollnow verfasste ein Buch mit dem Titel
Die Lebensphilosophie (1958), in dem er den Lebensbegriff als kulturkritischen
„Kampfbegriff‘ charakterisierte: Als Alternative zu „einem starren und festen
Sein“ und konventionellen „Verfestigungen“ generell propagierte er „die Le-
bendigkeit des Lebens“ (Bollnow 1958, 4). Ein solcher Gestus prägt bekanntlich
auch N.s Historienschaft. Außerdem gilt N. als Vorläufer (vgl. Heidegger 1979,
 
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