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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0402
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376 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

396) bzw. als Repräsentant (vgl. Annemarie Pieper, 1984, 115) der Existenzphi-
losophie, die unter Einfluss der Lebensphilosophie und des Denkens von Soren
Kierkegaard entstand. Sie wurde von Autoren wie Karl Jaspers, Martin Heideg-
ger, Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Gabriel Marcel entfaltet, die sich von
der Alternative zwischen spekulativem Idealismus und wissenschaftsgläubi-
gem Positivismus abgrenzten. Die Existenzphilosophie verwirft die Idee des
Absoluten und rückt stattdessen fundamentale Befindlichkeiten des Menschen
ins Zentrum, zu denen außer dem existentiellen Geworfensein und der Angst,
Sorge, Selbstbesinnung, Einsamkeit, Verzweiflung, Freiheit, Verantwortung,
Liebe und Schuld auch eine Erschütterung durch die Erfahrung von Nihilismus
oder Absurdität gehören kann.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Konzepte aus N.s Philoso-
phie - auch aus UB II HL - für ideologische Zwecke instrumentalisiert (vgl.
dazu die differenzierte Darstellung von Steven E. Aschheim 1996, 251-291). Eine
Funktionalisierung N.s für die nationalsozialistische Ideologie begann bereits
vor der sogenannten Machtergreifung4 (ebd., 252); dafür wurden verschiedene
Aspekte seines CEuvres genutzt. Besonders geeignet schienen außer N.s Kritik
an Decadence, Demokratie und Egalitarismus vor allem die lebensphilosophi-
schen, antirationalistischen und auf kulturelle Erneuerung zielenden Konzepte
in seinem Werk, die schon UB II HL bestimmen. Diejenigen, die eine neue, na-
tionalsozialistische Pädagogik propagierten, beriefen sich auf N.s Kritik an tra-
ditionellen Erziehungs- und Bildungskonzepten sowie „am antiquarischen
Geist des akademischen Lebens“ (Aschheim 1996, 260). Aus späteren Schriften
N.s adaptierte man vorzugsweise den Übermensch-Heroismus von Also
sprach Zarathustra und den ,Willen zur Macht4 für solche politischen Zwecke.
Steven E. Aschheim weist auf zeitgenössische Versuche hin, N. generell propa-
gandistisch zu vereinnahmen und auch speziell die Schlusspassage von
UB II HL im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie pädagogisch zu aktua-
lisieren (vgl. Aschheim 1996, 251-291, besonders 260). - In den Jahrzehnten
nach dem nationalsozialistischen Terrorregime ließen sich auch Vertreter „der
Kunsterziehungsbewegung44 und der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“,
beispielsweise der durch die Jugendbewegung geprägte Herman Nohl, der zeit-
weilig allerdings auch eine Affinität zur völkischen Ideologie gezeigt hatte,
durch Impulse aus N.s Historienschrift anregen. Darüber hinaus sind später in
„der postmodernen Pädagogik“ Einflüsse von N.s UB II HL festzustellen (Nie-
meyer 2016, 80).
Gianni Vattimo reflektiert die Historismus-Kritik und die Diagnose des
Epigonen-Syndroms in UB II HL, betont aber auch, dass N. damit „mehr Prob-
leme und Fragen aufwirft und stellt“ als „löst und beantwortet“, so dass die
„konstruktiven Aspekte der Schrift“ lediglich eine vage „Sammlung von Forde-
 
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