Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0403
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 377

rungen“ bieten (Vattimo 1992, 22, 23, 26). Allerdings bezeichnet er N.s Histori-
enschrift „als erste grundsätzliche Kritik einer der vorherrschenden Geistes-
richtungen der Kultur des 19. Jahrhunderts“ (ebd., 23), die „das europäische
Denken des 20. Jahrhunderts“ maßgeblich beeinflusst habe (ebd., 22) und
durch die Diagnose einer „geschwächten Persönlichkeit“ zugleich bereits die
moderne Massenkultur antizipiere (ebd., 25). In späteren Werken N.s sieht Vat-
timo die Konzepte von UB II HL jedoch kaum weitergeführt, sondern eher über-
wunden (vgl. ebd., 22-23).
In verschiedenerlei Hinsicht beeinflusste N.s Historienschrift Konzepte der
Moderne und Postmoderne. Die Bedeutung von UB II HL für den Postmoderne-
Diskurs hat die bisherige Forschung wiederholt konstatiert (vgl. dazu Margrei-
ter 1996, 9). Denn Krisensymptome, die N. in seiner Historienschrift der eige-
nen Epoche zuschreibt, erscheinen in mehrfacher Hinsicht zugleich auch als
Antizipation von Charakteristika der Postmoderne. Dies gilt etwa für das
Schlagwort vom Verschwinden des Subjekts4, das N. in UB II HL durch die Di-
agnose moderner „Subjectlosigkeit“ (284,19) vorwegnimmt. Hervorzuheben ist
außerdem der rasche „Wechsel der Stil-Maskeraden“ (KSA 5, 157, 7-8), zu de-
nen der „europäische Mischmensch“ die „Historie“ als „Vorrathskammer der
Kostüme“ benötigt, um einen „Karneval grossen Stils“ mit dem „geistigsten
Faschings-Gelächter und Übermuth“ zu zelebrieren (KSA 5, 157, 2-20), wie N.
im Rückblick auf UB II HL später in Jenseits von Gut und Böse konstatiert (vgl.
dazu Borchmeyer 1996,196-217). Allerdings inszeniert N. die Vorstellung eines
Karnevals auch bereits in UB II HL: Hier betont er mit Bezug auf die spätantike
Decadence die Gefahr von Entartung und Identitätsverlust „unter dem einströ-
menden Fremden [...] bei dem kosmopolitischen Götter-, Sitten- und Künste-
Carnevale“ (279, 22-24); diese Problematik analogisiert er ausdrücklich mit der
Situation der „modernen Menschen“ (279, 25) als der „nach Historie Gierigen“
(279, 33), die dann jedoch eine „Austreibung der Instincte durch Historie“ er-
fahren (280, 28).
Zwar scheinen Pluralität, Imitation, Persönlichkeitsschwäche und Epigo-
nalität, die N. in UB II HL dem Historismus seiner Epoche attestiert, die Ten-
denz zu Polyphonie und verspieltem Eklektizismus in der Postmoderne vor-
wegzunehmen. Aber zugleich unterscheiden sich die affirmative Haltung der
Postmoderne zur heterogenen Fülle kultureller Traditionen, ihre bewusste Ab-
sage an einheitsstiftende Leitkonzepte und ihr programmatisches Bekenntnis
zum fröhlichen Relativismus eines ,anything goes4 fundamental von der Pro-
blematisierung der modernen Krisenphänomene, die N. in UB II HL zum Aus-
druck bringt. Gleichwohl ist eine Kontinuität von Grundtendenzen festzustel-
len. So setzt sich N.s Vorstellung karnevalistischer Heiterkeit im postmodernen
Postulat der Karnevalisierung fort, das einen subversiven Gestus ebenso ein-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften