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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0404
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378 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

schließt wie spielerische Inszenierungen (vgl. dazu Borchmeyer 1996, 199-
200). Zur Diskussion der von Autoren wie Gianni Vattimo und Jürgen Haber-
mas formulierten Ansicht, N. habe als Wegbereiter der Postmoderne fungiert,
vgl. ebd., 207-209.
Partielle Affinitäten zu N.s kritischen Perspektiven auf Historie, Journalis-
mus und Mythos in UB II HL lassen sich in der Geschichts- und Medienkritik
von Jean Baudrillard feststellen. In seinem Buch Kool Killer oder Der Aufstand
der Zeichen (1978) diagnostiziert er im Kapitel „Geschichte: Ein Retro-Scenario“
(ebd., 49-56) eine „Agonie des Realen und Rationalen, mit der das Zeitalter der
Simulation“ anbreche (ebd., 50). In der Gegenwart erlange die Historie durch
mediale Inszenierung zwar öffentliche Präsenz, zugleich aber werde ihre Funk-
tion im gesellschaftlichen Prozess der Selbstvergewisserung in Frage gestellt
(vgl. ebd., 49-51). Während N. die zeitgenössische Hypertrophie des Histori-
schen auf den Verlust des identitätsstiftenden Mythos zurückführt (vgl. KSA 1,
146, 7-14), behauptet Baudrillard, der Mythos habe zunächst ein Refugium im
modernen Kino gefunden, sei in der ,,pazifizierte[n] Monotonie“ des Nach-
kriegsalltags jedoch durch die Geschichte ersetzt worden, die anstelle des My-
thos im Kino „ihre gewaltige Wiederauferstehung“ feiere (Baudrillard 1978,
49), allerdings unter grundlegend veränderten Rahmenbedingungen: „Die Ge-
schichte ist unser verlorener Bezug, das heißt unser Mythos. In dieser Eigen-
schaft löst sie die Leinwandmythen ab“, wird dabei jedoch ihrer Substanz be-
raubt (ebd., 49). In den „Phantasmen einer versunkenen Geschichte“ sammle
sich „das Arsenal der Ereignisse, Ideologien und Retro-Moden“, so dass ver-
gangene Epochen „in wildem Durcheinander wieder lebendig“ werden, aber
ohne dass dabei ein bewusst eingesetztes Selektionsprinzip wirksam ist: „bloß
Nostalgie akkumuliert endlos“ (ebd., 50). Analogien zu N.s Historismus-Kritik
sind hier deutlich zu erkennen (vgl. in UB II HL z. B. 299-300, 303-307, 313).
Baudrillard sieht in der Gegenwart diffuse „Retro-Faszination“ mit einem
„Fetischismus“ der Geschichte verbunden (ebd., 50-51), der ihr aber keine
neue Bedeutung verleihe. Vielmehr sei er durch das Bedürfnis motiviert, da-
durch dem Gefühl der „Leere zu entkommen“ (ebd., 50), erschöpfe sich aller-
dings bereits in Eskapismus. Die Verfestigung der Historie zum „Monument“
offenbare lediglich nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen Geschichtsbe-
zug, ohne dass mit dieser Mentalität auch eine „Bewußtwerdung“ einhergehe.
Im Kino erscheine „Geschichte posthum“; und die zu „Fossilien“ erstarrte His-
torie werde durch mediale Inszenierung zum Objekt einer „Kultur der Kombi-
natorik“ (vgl. ebd., 50-52) ohne genuinen Sinn. Zum „Verschwinden der Ge-
schichte“ trage sie ebenso bei wie zur „Vollendung des Archivs“ (ebd., 55).
Gerade in den ,Retro-Scenarien‘ der Moderne mit ihren rückwärtsgewandten
Moden zeige sich der Verlust einer authentischen Beziehung zur Geschichte,
 
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