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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0422
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396 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

will er „das Problem der Historie selbst auflösen“, um dem „Imperativ des Geis-
tes der ,neuen Zeit“4 zu folgen (306, 9-11).
Allerdings wäre das Epigonensyndrom als wichtiger Aspekt einer kulturel-
len Krisensituation in der historischen Gesamteinschätzung auszubalancieren:
durch eine angemessene Mitberücksichtigung der gewaltigen sozialen Umbrü-
che und der fundamentalen Fortschritte in Naturwissenschaft, Medizin und
Technik, die maßgeblichen Einfluss auf die Gesamtsituation der Epoche hat-
ten. Da gerade diese Entwicklungen fundamentale Veränderungen für die Ge-
sellschaft als ganze mit sich brachten, kommt ihnen im Panorama des 19. Jahr-
hunderts eine zentrale Bedeutung zu. Weil N.s Fokus jedoch auf Kulturkritik in
engerem Sinne gerichtet ist, erscheinen Epigonen-Problematik und Decadence-
Diagnose in der Historienschrift überakzentuiert. Demgegenüber ist der zeitge-
nössische Fortschrittsoptimismus als die Mentalität hervorzuheben, mit der
man in der Gründerzeit auf die nachhaltigen Verbesserungen der Lebenssitua-
tion im Gefolge technischer Innovationen und ökonomischer Umstrukturie-
rung reagierte. Denn der durch diese Entwicklungen ausgelöste Zukunftselan
mit seiner gesellschaftlichen Breitenwirkung bildete einen markanten Gegen-
pol zur resignativen Diagnose von Epigonalität und Decadence, die sich vor
allem auf spezifische Bereiche der Kultur bezog.
8. Geistesaristokratischer Individualismus oder romantische Volksideologie
In seiner Historienschrift lässt N. diametral entgegengesetzte Präferenzen er-
kennen: Einerseits betont er im Zusammenhang mit der ,monumentalischen
Historie4 die Bedeutung des großen Individuums und die Vorbildfunktion der
starken Persönlichkeit. So plädiert er im 6. Kapitel von UB II HL für den hel-
denhaften Typus, indem er sich ein „Hundert [...] unmodern erzogener, das
heisst reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen“ wünscht
(295, 20-22), um die Epigonen-Problematik dauerhaft zu überwinden. Anderer-
seits jedoch propagiert N. am Ende des 7. Kapitels ein spätromantisches Ideal
des Volkes. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zu seiner Vorliebe für
heroische Ausnahmeexistenzen. Vor dem Hintergrund seines elitären Individu-
alismus überrascht der Appell: „Schafft euch den Begriff eines Volkes4: den
könnt ihr nie edel und hoch genug denken“ (302, 12-13). Dieser Impuls lässt
sich zwar mit N.s kritischer Distanz zum Wissenschaftsbetrieb und zum Typus
des Gelehrten sowie mit dem Einfluss der Volksideologie Richard Wagners er-
klären, stellt aber zugleich die Konsistenz des argumentativen Duktus von
UB II HL in Frage. Denn dessen Zielrichtung variiert, weil sie von dem jeweils
primären Fokus der Kritik abhängig ist.
 
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