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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0608
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582 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

hunderts behauptet wurde, betont auch N. im zweiten der Basler Vorträge Ue-
ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten: „Sehr geheimnißvoll und schwer zu
fassen ist das Band, welches wirklich zwischen dem innersten deutschen We-
sen und dem griechischen Genius sich knüpft“ (KSA 1, 691, 16-18).
334, 9-14 dass jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende
Förderung der wahren Bildung sein muss: mag diese Wahrhaftigkeit auch gele-
gentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag
sie selbst einer ganzen dekorativen Cultur zum Falle verhelfen können.] Dieser
Gegensatz zwischen genuiner ,Bildung4 und bloßer ,Gebildetheit4 ist schon in
der Geburt der Tragödie angelegt und wird von N. in den Unzeitgemässen Be-
trachtungen wiederholt mit Nachdruck exponiert. In einer früheren Passage
von UBII HL entwickelt N. die Perspektive, „der in Deutschland gerade jetzt
modisch gewordenen Gebildetheit den Garaus zu machen“ (260, 33-34). - Die
Opposition von ,Bildung4 und ,Gebildetheit4 adaptiert N. aus Richard Wagners
Schrift Über das Dirigiren, die 1869 erschien und 1907 in Band VIII seiner Ge-
sammelten Schriften und Dichtungen publiziert wurde. Hier stellt Wagner die
„nichtige Gebildetheit“ der „wahren Bildung“ gegenüber (vgl. GSD VIII, 313-
315). Richard Wagner, der sich selbst gern als Dirigent in Szene setzte, polemi-
siert in der betreffenden Textpartie seiner Schrift Über das Dirigiren gegen die
erfolgreichen jüdischen Dirigenten seiner Epoche, insbesondere gegen Felix
Mendelssohn Bartholdy. Denn Wagner ärgerte sich über die hohe Reputation,
die dieser Komponist auch als Dirigent genoss: „Wie der Banquier das Kapital,
so brachte dieser die Gebildetheit mit. Ich sage: Gebildetheit, nicht Bil-
dung.“ Mit dieser Aussage bezieht sich Wagner auf den Komponisten und
Dirigenten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und spielt zugleich auf
die jüdische Provenienz seiner angesehenen bürgerlichen Familie an: Felix
Mendelssohn Bartholdys Vater Abraham Mendelssohn, ein Sohn des bekann-
ten Philosophen Moses Mendelssohn, war Bankier. Abraham und Lea Mendels-
sohn, die Eltern von Felix Mendelssohn Bartholdy, erzogen ihre Kinder protes-
tantisch und konvertierten 1822 schließlich auch zum Christentum. - Im Sinne
seiner antisemitischen Ressentiments fährt Richard Wagner in der oben bereits
zitierten Passage seiner Schrift Über das Dirigiren folgendermaßen fort (vgl.
GSD VIII, 313-315): „Mir ist nun kein Fall bekannt geworden, in welchem selbst
bei der glücklichsten Pflege dieser Gebildetheit hier der Erfolg einer wahren
Bildung [...] zum Vorschein gekommen wäre.“ Richard Wagner beeinträchtigte
durch seine antisemitisch motivierte Polemik gegen Felix Mendelssohn Bar-
tholdy nachhaltig die Rezeption von dessen CEuvre, dessen Qualität schon in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zahlreichen Zeitgenossen unter-
schätzt wurde.
 
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