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Überblickskommentar 9

habe „bereits ,an gar nichts mehr', wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer
nicht" geglaubt (MA II Vorrede 1, KSA 2, 370, 12-17). Als beredtes Zeugnis für
solche „Skepsis und Auflösung" führt N. WL als „geheim gehaltenes Schrift-
stück" (KSA 2, 370, 17-18) an, das die späteren metaphysikkritischen, ,äußer-
moralischen' Werke inauguriere. Auch während der Arbeit am Zarathustra im
Sommer/Herbst 1884 begründet N. die Nicht-Veröffentlichung von WL durch
die ,Unzeitgemäßheit' der Schrift: „So wie ich über moralische Dinge denke,
bin ich zu langem Stillschweigen verurtheilt gewesen. Meine Schriften enthal-
ten diesen und jenen Wink; ich selber stand kühner dazu; schon in meinem
25. Jahre verfaßte ich für mich ein pro memoria ,über Wahrheit und Lüge
im außermoralischen Sinne'. [...] Jetzt, wo ich einen freieren Überblick über
diese Zeit habe, und Vieles mir erlaube, was ich früher für unerlaubt gehalten
hätte, sehe ich keine Gründe mehr, hinter dem Berge zu halten" (NL 1884, KSA
11, 26[372], 248, 29-249, 9). Zu beantworten bleibt die Frage, weshalb N. zu
dem Zeitpunkt, da er sich „einen freieren Überblick" attestiert, mit der Publika-
tion von WL doch weiterhin „hinter dem Berge" hält. Vermutlich schätzte er
die Schrift gerade nach der Irritation, welche sein Erstlingswerk GT in philolo-
gischen Kreisen erregt hatte, als für eine Veröffentlichung ungeeignet ein. Der
Vermerk, er habe WL für sich geschrieben, kann auch als bewusstes Spiel mit
Werk und Nachlass gedeutet werden, in erster Linie jedoch unterstreicht N.
damit den reflexiven und vorläufigen Charakter des Textes.
Auf WL als eine Art private Gedankensammlung mit transitorischem Cha-
rakter deutet auch N.s Umgang mit seinen Quellen hin. Denn für sich selbst
brauchte er keine Quellen zu belegen, zumal wenn er diese benutzte, um Fra-
gestellungen zu konturieren, die ihn seit Längerem schon beschäftigten. Dass
WL keine Fortsetzung im Sinne einer theoretischen Weiterentwicklung der auf-
geworfenen Probleme fand, lässt sich mit N.s Unstetigkeit in theoretischen Fra-
gestellungen begründen, die sich auch in den Schriften im Umkreis von WL
zeigt. Hier sind zur Hauptsache N.s eigenwillige Kant-Deutungen sowie sein
wechselhaftes Verhältnis zu Schopenhauer zu nennen. Die Instabilität beson-
ders von N.s philosophischen Standpunkten lässt sich aber zu einem Teil auch
als Inszenierung dessen lesen, was N. in WL im Namen der Wissenschaft für
die Philosophie einfordert. Als ,wahr' könne sich diese nämlich nur insofern
gerieren, als sie selbstkritisch jeden ihrer Ansätze als heuristischen formuliert
und sich als Perspektive unter Perspektiven begreift (vgl. NK 880, 28-29).

3 Quellen
Trotz des geringen Umfangs der Schrift lassen sich in WL zahlreiche Spuren
von N.s Lektüre anderer Autoren nachweisen. N.s philologische Ausbildung
 
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