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10 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

und sein (oft durch zeitgenössische Literatur vermitteltes) Studium der klassi-
schen Autoren ist als grundsätzliche Vorbereitung seiner sprachkritischen Re-
flexionen, wie sie in WL erstmals eine Form gewannen, nicht zu unterschätzen.
Zudem ähnelt WL in seinen wechselnden Tonlagen verschiedensten zeitgenös-
sischen Stimmen. Die Zahl der von N. rezipierten Autoren aber, in deren Wer-
ken sich eine eindeutige Verwandtschaft zu den theoretischen Fragen von WL
ausmachen lässt, ist weitgehend überblickbar.
Die einzige Quelle, die N. in WL (neben der Erwähnung Lessings und
Chladnis) explizit anführt, ist Pascal. Über das Zitat aus N.s deutscher Pascal-
Leseausgabe hinausgehend (vgl. NK 887, 18-24), lässt sich jedoch eine Vielzahl
direkter und indirekter Zitate sowie bislang von der Forschung unberücksich-
tigt gebliebener thematischer Ähnlichkeiten belegen (vgl. NK 875, 2-11, 875,
22-23, 876, 20-24 u. 885, 6-7).
Ihr Hauptaugenmerk legte die Quellenforschung zu WL bislang (seit La-
coue-Labarthe/Nancy 1971) auf das Werk Die Sprache als Kunst (2 Bde., Brom-
berg 1871-1874) des Gymnasialdirektors Gustav Gerber. N. entlieh sich für die
Vorbereitung seiner für das Wintersemester 1872/1873 angesetzten Vorlesung
Darstellung der antiken Rhetorik am 28. September 1872 den ersten Band (im
Folgenden mit SK abgekürzt) aus der Basler Universitätsbibliothek. Wie der
Einfluss von Gerbers Generalthese, alle Sprache sei wesentlich Rhetorik, auf
WL zu bewerten ist, ist in der Forschung allerdings umstritten. Die Positionen
reichen von der These, N.s Rhetorik-Vorlesung sowie WL seien mehr oder weni-
ger als Kompilationen Gerberscher Gedanken zu lesen (Meijers/Stingelin 1988),
über den Nachweis eines souveränen Transformationsprozesses Gerberscher
Gedanken in WL (Kalb 2000, 144-166) bis hin zu der Meinung, Gerbers Bedeu-
tung trete hinter N.s Lektüre vor allem von Schopenhauer, Lange und Hart-
mann zurück (Crawford 1988). Festzuhalten ist, dass N. in WL Gerbers Nerven-
reizmodell (vgl. etwa NK 879, 10-13) sowie eine Reihe von Beispielen zur Be-
schreibung des metaphorischen Charakters der Sprache, aber auch manchen
Begriff übernimmt. Zudem lernt er durch Gerber die Tradition der Sprachphilo-
sophie (u. a. W. v. Humboldt, Bopp, Hamann, Herder, Steinthal, Heyse) und die
zeitgenössische linguistische Forschung kennen (vgl. Meijers 1988, 376; Most/
Fries 1994, 23-25).
Dass die Forschung auch uneins über die Bedeutung von Schopenhauers
Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (Leipzig 1819), das N. bereits Ende
1865 als Student las, für seine erkenntnistheoretischen Ansichten ist, liegt zum
Teil an N.s oft widerspruchsvoller und durch Wagner beeinflusster Schopen-
hauer-Rezeption, die in WL etwa am Begriff der Erscheinung offenkundig wird.
Für den jungen N. maßgebend ist Schopenhauers Kritik am Rationalismus, so-
wie der Ausnahme-Status, den dieser der Musik als metaphysischer Kunst zu-
 
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