Überblickskommentar 15
nungsreichen Charakter eines literarischen Essays. In dieser Hinsicht ist WL
stilistisch der Morgenröthe oder der Fröhlichen Wissenschaft mit ihrer aphoristi-
schen Dichte verwandt. Vom beinahe feuilletonistischen Stil der zeitnah entste-
henden Unzeitgemäßen Betrachtungen unterscheidet sich der Duktus von WL,
zumal N. als Autor in WL stärker hinter den Text zurücktritt. Wenn die vorder-
gründige Struktur von WL sich breviter nachvollziehen lässt, bedarf der Inhalt
dieser Schrift doch einer genaueren Analyse, welche mittelbar Licht auch auf
die Struktur des Textes zu werfen vermag.
Schon in Titel und Eingangsfabel von WL ist die hier erstmals in einen
theoretischen Diskurs eingebettete Frage nach der objektiven Wahrheit in nuce
angelegt. Indem N. der Fabel von den „klugen Thieren" (875, 7) in einem kom-
mentierenden Zusatz attestiert, sie könne die Beschaffenheit des menschlichen
Intellekts nicht hinreichend illustrieren, engt er gleich zu Beginn von WL die
Frage nach der Erkenntniskraft des Intellekts auf die Referentialität des (künst-
lerischen) Sprachbildes ein. Da sich die literarische Form der Fabel als „nicht
genügend" (875, 8-9) erweist, das Wesen des Intellekts zu bestimmen, bemüht
N. evolutionistische Begriffe, um das dem Überleben dienende Merkmal des
Intellekts als Täuschung zu bestimmen. Die Evolutionsgeschichte des Intel-
lekts gerät N. aber zur Ursprungsgeschichte der Sprache. Bereits hier deutet er
an, dass der in einem grausamen Naturzustand gründende Sprachtrieb mit ei-
nem „Trieb zur Wahrheit" (876, 27-28) zu tun hat, der gleichfalls eine existen-
ziale Dimension besitzt. Der „Contrast von Wahrheit und Lüge" (877, 30) wird
durch die Sprachgesetzgebung bedingt, die Lüge definiert sich durch Negation,
durch Missachtung der sprachlichen Konvention, damit aber zugleich als Ver-
stoß gegen das menschliche Bewusstsein, das sich wesentlich auf die Fixie-
rung von Sprachzeichen gründet. N. spannt in WL zwischen dem Bild von ei-
nem überindividuellen „Bewusstseinszimmer" (877, 11) und den somatischen
Abgründen, die dem Menschen notwendig verborgen bleiben, eine vertikale
Dimension auf, deren Ausmaße er in drastischen physiologischen Bildern aus-
lotet. Die Genese der Sprache erläutert ein physikalisch-kausales Schema, das
die Allgemeinbegriffe als logisches Resultat individueller körperlicher Eindrü-
cke auffasst (zu Gerbers Nervenreizmodell vgl. NK 879, 10-13). Diese Übertra-
gungsvorgänge interpretiert N. als willkürlich verfahrende Metaphern, wo-
durch er der Sprache einen rhetorischen Charakter zuschreibt, d. h. eine Analo-
gie zwischen der rhetorischen Trope und grundlegenden Operationen der
Sprachentstehung stiftet. Damit kann sie aber nicht „der adäquate Ausdruck
aller Realitäten" (878, 15-16) sein, ja die Adäquationstheorie selbst erweist sich
wie die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge als Fiktion der Sprache.
Schon hier wird deutlich, dass die Sprache in der Nichteinholbarkeit ihres
künstlerischen Charakters N. in WL als formales exemplum für ein Leben kon-
nungsreichen Charakter eines literarischen Essays. In dieser Hinsicht ist WL
stilistisch der Morgenröthe oder der Fröhlichen Wissenschaft mit ihrer aphoristi-
schen Dichte verwandt. Vom beinahe feuilletonistischen Stil der zeitnah entste-
henden Unzeitgemäßen Betrachtungen unterscheidet sich der Duktus von WL,
zumal N. als Autor in WL stärker hinter den Text zurücktritt. Wenn die vorder-
gründige Struktur von WL sich breviter nachvollziehen lässt, bedarf der Inhalt
dieser Schrift doch einer genaueren Analyse, welche mittelbar Licht auch auf
die Struktur des Textes zu werfen vermag.
Schon in Titel und Eingangsfabel von WL ist die hier erstmals in einen
theoretischen Diskurs eingebettete Frage nach der objektiven Wahrheit in nuce
angelegt. Indem N. der Fabel von den „klugen Thieren" (875, 7) in einem kom-
mentierenden Zusatz attestiert, sie könne die Beschaffenheit des menschlichen
Intellekts nicht hinreichend illustrieren, engt er gleich zu Beginn von WL die
Frage nach der Erkenntniskraft des Intellekts auf die Referentialität des (künst-
lerischen) Sprachbildes ein. Da sich die literarische Form der Fabel als „nicht
genügend" (875, 8-9) erweist, das Wesen des Intellekts zu bestimmen, bemüht
N. evolutionistische Begriffe, um das dem Überleben dienende Merkmal des
Intellekts als Täuschung zu bestimmen. Die Evolutionsgeschichte des Intel-
lekts gerät N. aber zur Ursprungsgeschichte der Sprache. Bereits hier deutet er
an, dass der in einem grausamen Naturzustand gründende Sprachtrieb mit ei-
nem „Trieb zur Wahrheit" (876, 27-28) zu tun hat, der gleichfalls eine existen-
ziale Dimension besitzt. Der „Contrast von Wahrheit und Lüge" (877, 30) wird
durch die Sprachgesetzgebung bedingt, die Lüge definiert sich durch Negation,
durch Missachtung der sprachlichen Konvention, damit aber zugleich als Ver-
stoß gegen das menschliche Bewusstsein, das sich wesentlich auf die Fixie-
rung von Sprachzeichen gründet. N. spannt in WL zwischen dem Bild von ei-
nem überindividuellen „Bewusstseinszimmer" (877, 11) und den somatischen
Abgründen, die dem Menschen notwendig verborgen bleiben, eine vertikale
Dimension auf, deren Ausmaße er in drastischen physiologischen Bildern aus-
lotet. Die Genese der Sprache erläutert ein physikalisch-kausales Schema, das
die Allgemeinbegriffe als logisches Resultat individueller körperlicher Eindrü-
cke auffasst (zu Gerbers Nervenreizmodell vgl. NK 879, 10-13). Diese Übertra-
gungsvorgänge interpretiert N. als willkürlich verfahrende Metaphern, wo-
durch er der Sprache einen rhetorischen Charakter zuschreibt, d. h. eine Analo-
gie zwischen der rhetorischen Trope und grundlegenden Operationen der
Sprachentstehung stiftet. Damit kann sie aber nicht „der adäquate Ausdruck
aller Realitäten" (878, 15-16) sein, ja die Adäquationstheorie selbst erweist sich
wie die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge als Fiktion der Sprache.
Schon hier wird deutlich, dass die Sprache in der Nichteinholbarkeit ihres
künstlerischen Charakters N. in WL als formales exemplum für ein Leben kon-