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Überblickskommentar 19

vorbereitet. Bemerkenswert sind die zahlreichen Konsonanzen zwischen N.s
sprachkritischem Diskurs, wie er sich beispielhaft in WL verdichtet, und den
sprachtheoretischen Reflexionen zeitgenössischer wie späterer Autoren, wel-
che die in WL formulierten erkenntniskritischen Fragestellungen - oft auch
ohne (gesicherte) Kenntnis des Textes - vertiefen oder literarisch umsetzen
und variieren. Im Folgenden werden deshalb nur besonders markante Beispie-
le angeführt, die sich entweder nachweislich auf WL beziehen oder die eine
ausgeprägte motivisch-strukturelle Verwandtschaft zu WL aufweisen.
Eine frühe Anmerkung zu WL findet sich bereits in der Studie Friedrich
Nietzsche. Der Künstler und der Denker. Ein Essay (1897) des Neukantianers Alo-
is Riehl, der N.s These, alle Wahrheit sei Illusion, direkt von Schopenhauer
herleitet. In der erweiterten dritten Auflage seines Nietzsche-Porträts geht Riehl
ausführlicher auf WL, eine der „frühesten und merkwürdigsten Schriften"
(Riehl 1901, 134) N.s ein, in der „sich die wahre Meinung Nietzsches über das
Erkennen ab[spiegelt]: sein Erkenntnis-Nihilismus, der die Position in der
Kunst nimmt, - oder, was für Nietzsche ebenso viel bedeutet: in der Täu-
schung, der Lüge" (Riehl 1901, 135).
In seinem Essay Wahrheit und Lüge (in: Deutsche Rundschau, Bd. 97,
25. Jg., H. 2 von November 1898; vgl. Kr I, 317) sieht auch der Soziologe und
Philosoph Wilhelm Jerusalem den „Kant-Schopenhauer'schen Idealismus" (Je-
rusalem 1898, 224) N.s These zugrunde liegen, „daß unsere ganze Erkenntniß
Lüge sei, da wir nie die Dinge an sich, sondern immer nur die Erscheinung
zu erkennen vermögen, daß es eigentlich zu den größten Unbegreiflichkeiten
gehöre, wie der Drang nach Wahrheit in den zur Lüge eigentlich prädestinirten
Menschen hinein gekommen sei" (Jerusalem 1898, 224). Jerusalems Essay hebt
mit der Paraphrase einiger Passagen aus WL an, anhand derer er eine, sich vor
allem in den literarischen Produkten der Moderne zeigende und das gesell-
schaftliche Zusammenleben gefährdende, generelle „Verwirrung der Begriffe"
(Jerusalem 1898, 224) diagnostiziert. Aus pragmatischen Gründen sei daher
eine (literar)historische und psychologische Untersuchung der „Geschichte der
moralischen Beurtheilung" (Jerusalem 1898, 225) geboten.
Fritz Mauthner hingegen, der als einer der ersten Rezipienten von N.s
Überlegungen zur Sprache gelten kann, kannte WL zum Zeitpunkt der Nieder-
schrift seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bde., Stuttgart 1901-1902)
vermutlich nicht (Bredeck 1984) und konnte deshalb kritisieren, N. betrachte
die Sprache statt unter erkenntnistheoretischen nur unter moralischen Aspek-
ten (vgl. Bd. 1, 331). Umso beachtlicher ist, dass Mauthner in Bd. 2 seiner Bei-
träge ein Kapitel dem Problem der Metapher widmet und auffallend ähnliche
Beobachtungen zur Natur der Sprache anstellt wie N. in WL. Im Rahmen einer
Kritik an der Psychologie, die Mauthner zufolge die Welt künstlich in Antino-
 
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