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20 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

mien scheidet, entwickelt er seine zentrale Idee der „Zufallssinne" (Bd. 1, 76),
derzufolge die menschlichen Sinne die Welt nur ungeordnet und ausschnitt-
haft perzipieren, was sich aus der zufällig ablaufenden Evolution der Sinnes-
organe ergebe. Da der Mensch also kein für eine adäquate Welterkenntnis
zulängliches Sinnesorgan besitzt, sedimentieren sich allmählich seine kaleido-
skopartigen Vorstellungen von der Welt im Wort, das in seinem Anspruch, die
„Wirklichkeitswelt" (Bd. 1, 108) abzubilden, einen illusionären Charakter be-
sitzt. Als „Werkzeug der Erkenntnis" (Bd. 1, 79) sei die Sprache notwendig un-
geeignet, ja täuschend, da „jedes einzelne Wort [...] in sich eine endlose Entwi-
ckelung von Metapher zu Metapher" (Bd. 1, 108) trage. Die einzige konkrete
Wissenschaft ist für Mauthner (wie schon für Gerber) deshalb nur als eine „Kri-
tik der Sprache" denkbar.
Ein weiteres bemerkenswertes zeitgenössisches Zeugnis, das, bei wahr-
scheinlicher Unkenntnis von WL, einzelne Konvergenzen mit N.s sprach- und
erkenntniskritischer Position aufweist (z. B. hinsichtlich der Bedeutung der Me-
tapher oder der Untauglichkeit der Sprache für jede Erkenntnis), ist Gustav
Landauers kleine Schrift Skepsis und Mystik. Versuch im Anschluß an Mauthners
Sprachkritik (1903). Die Tragweite von N.s sprachphilosophischen Entwürfen
verkennend stimmt Landauer in die harsche Kritik seines Freundes Mauthners
ein: N.s Bevorzugung moralischer Fragestellungen habe „ihn dauernd gehin-
dert [...], die Fragwürdigkeit der Sprache zu erkennen" (Landauer 1903, 135).
Mauthner habe diese als Erster in den Blick genommen, ja erst er habe „die
Sprachkritik [...] begründet" (Landauer 1903, 4).
Explizit Bezug auf WL nimmt Hans Vaihinger in Die Philosophie des Als ob.
System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit
auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und
Nietzsche (1911): In dem „merkwürdigen" (Vaihinger 1911, 772) Fragment „gip-
feln" alle früheren „Ansätze" (Vaihinger 1911, 772) N.s. „Grundgedanke" (Vai-
hinger 1911, 774) von WL sei, „dass nicht blos unsere Sprache, sondern auch
das begriffliche Denken auf lügnerischen [...] Operationen beruht" (Vaihinger
1911, 774). N.s „Lehre vom bewußt gewollten Schein" (Vaihinger 1911, 771), die
sich direkt von Lange und Kant herschreibe, habe ihn selbst, so Vaihinger, zur
Herausgabe seiner lange gehüteten Philosophie des Als ob bewegt (vgl. Kr II,
558-559).
In seiner charakterologischen Studie Die psychologischen Errungenschaften
Nietzsches (1926) nimmt auch Ludwig Klages WL zum Anlass für eigene Reflexi-
onen - allerdings unter völlig anderen Vorzeichen: Der „Schlußsatz" (Klages
1926, 194) der Eingangsfabel von WL, so Klages zugespitzt, sei „ein schier un-
wahrscheinlicher Betrug, zu dem der christliche Nietzsche den heidnischen
Nietzsche überredet" habe (Klages 1926, 194), und geradezu Ausdruck eines
 
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