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22 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

philosophischen Text) nachgeht, und im Zusammenhang mit der Thematik der
analogia entis (und besonders der dekonstruktivistischen WL-Lektüre von La-
coue-Labarthe und Nancy) auch auf N.s sprachtheoretische Ausführungen. Ri-
coeur stellt sich die Frage, ob die Diskussion über die Metapher in der Ge-
schichte der Philosophie (von Aristoteles über Husserl und Heidegger) nicht
auch eine Diskussion über die Grundlage der Philosophie selbst bzw. über jene
nicht thematisierbare Bedingung einschließt, die der Bestimmungsgrund der
Erfahrung ist.
In diesem Punkt ist Ricoeurs Metaphernstudie Hans Blumenbergs „Pro-
grammschrift" Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) vergleichbar, die
Blumenberg zunächst als Hilfsmethodik im Dienste einer Begriffsgeschichte
denkt, deren (philosophische) Termini auf ihren historisch-metaphorologi-
schen Gehalt hin zu untersuchen sind, um so die „Substruktur des Denkens"
(Blumenberg 1960, 13) selbst offenzulegen.
Jacques Derrida nimmt nicht nur mit dem Titel seiner Histoire du menson-
ge. Prolegomenes (posthum 2012) Bezug auf N., sondern leitet seine Überlegun-
gen über die Möglichkeit, die Geschichte der Lüge zu schreiben, mit einer kur-
zen Reflexion über dessen Geschichte eines Irrthums (in GD) und WL ein. Doch
will Derrida mit N. nicht die Lüge als Irrtum („erreur", Derrida 2012, 11) begrif-
fen wissen. Der Irrtum liege vielmehr im Begriff der Wahrheit („dans la consti-
tution du vrai", Derrida 2012, 11) begründet. Nicht als moralisches, sondern als
theoretisches und epistemologisches Problem sei die Lüge daher für N. interes-
sant. Derrida hingegen nimmt ihre irreduzible ethische Dimension wieder in
den Blick (ähnlich wie zuvor Vladimir Jankelevitch in Du mensonge von 1942,
wo dieser die Intentionalität jeder Lüge und ein Bewusstsein als deren Möglich-
keitsbedingung unterstreicht). Sie schließt eine politische Dimension mit ein,
insofern sie, einmal ,in die Welt gesetzt', als geschichtsmächtige Gegen-Wahr-
heit („contre-verite", Derrida 2012, 67) Wirklichkeit gestaltet - diese ist bei Der-
rida künstlerisch auch insofern, als er mit der „contre-verite" ironisch auf eine
Gattungstradition der Satire anspielt.
Von außerordentlicher Wichtigkeit ist WL auch für Roland Barthes, der
etwa in Le plaisir du texte (1973) neben einem allgemein deutlich von N. ge-
prägten Duktus gleich mehrmals explizit auf N.s Text verweist (Barthes 1973,
46-47 u. 69) und dabei den Fokus auf Wahrheit, Sprache(n) und Macht sowie
auf den Text-Körper im Schnittpunkt dieser Meridiane richtet. N.s Einfluss auf
Barthes sprachphilosophische Positionen wird besonders auch in Barthes An-
trittsvorlesung am College de France von 1977 deutlich (Barthes 1978).
Auch Richard Rorty findet in N. einen zentralen Bezugspunkt für die Ent-
wicklung seiner Position zum Problem von Wahrheit und Objektivität. N. habe,
so Rorty, in entscheidender Weise - durch JGB und WL - seinen Beitrag zur
 
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