30 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
heit der anpassungsfähigeren Masse gegenüber den starken Einzelnen führen
und damit eine Geschichte nicht der graduellen Vervollkommnung, sondern
der decadence bewirken, vgl. Der Antichrist: „Die Menschheit stellt nicht eine
Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar [...]. Der ,Fort-
schritt' ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee. [...] Fortent-
wicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Nothwendigkeit Erhö-
hung, Steigerung, Verstärkung" (AC 4, KSA 6, 171, 2-8; vgl. Sommer 2010, 40-
41). Das heißt: „wir haben ihn [den Menschen] unter die Thiere zurückgestellt.
Er gilt uns als das stärkste Thier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist
seine Geistigkeit" (AC 4, KSA 6, 180, 3-6). Wenn N. schreibt, es gelte, „uns
Menschen [...] zu vernatürlichen" (FW 109, KSA 3, 469, 3-4), uns „zu-
rück[zu]übersetzen in die Natur" (JGB 230, KSA 5, 169, 19-20), dann hat er
freilich keine bloß reduktionistische Interpretation des Menschen im Sinn. N.
erkennt den tierischen Ursprung des Menschen an, der ihm immer wieder neue
Metaphernfelder erschließt, indem er den physischen Stoff und damit eine Art
echter Fundierung für erspürte Ähnlichkeiten liefert.
875, 5 „Weltgeschichte"] Indem N. den Begriff der Weltgeschichte in Anfüh-
rungszeichen setzt, ironisiert er diesen nicht bloß, sondern macht ihn zugleich
als anthropomorphe Abstraktionskategorie kenntlich. Ferner zitiert er durch
die Anführungszeichen gewissermaßen indirekt die Begriffsgeschichte der
„Weltgeschichte". Im 16./17. Jahrhundert bezeichnet diese im Wissenschaftsdis-
kurs die „Universalhistorie" (vgl. das frz. histoire universelle bzw. mondiale/
globale), im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die Menschheitsgeschichte
mit konstatierbarem telos (auf der Grundlage des Perfektibilitätsgedankens,
vgl. Baum/Neumeister/Hornig 1989), die nun, identisch mit dem Kollektivsin-
gular „Geschichte", eine neue Leitwissenschaft begründet. Die sich im Laufe
des 19. Jahrhunderts vollziehende Ausdifferenzierung in Teildisziplinen führte
allmählich zum Geltungsverlust des Begriffs „Weltgeschichte" (vgl. Rohbeck
2004).
Einen teleologischen Geschichtsverlauf - „die allgemeine Weltgeschichte
nach einem Plane der Natur" - möchte auch Kant in der Idee zu einer allgemei-
nen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) als möglich angenommen wis-
sen (AA VII, 29; vgl. dazu Sommer 2006, 310-326). Bei Hegel heißt es in den
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822/1823) bündig: „Aber
die Weltgeschichte ist immer ein Fortschreiten zu einem Höheren" (Hegel 1996,
257). Dass N. mit dem Begriff der Weltgeschichte, ob offen oder verdeckt, meist
gegen Hegels Konzept eines vernünftigen Geschichtsverlaufs als Manifestation
des objektiven Weltgeistes und als auf Perfektibilität beruhenden Fortschritts
(vgl. Koselleck/Meier 1975) polemisiert, belegt etwa eine Stelle aus UB II. Dort
ist von dem verhängnisvollen Einfluss „diese[r] Hegelisch verstandene[n] Ge-
heit der anpassungsfähigeren Masse gegenüber den starken Einzelnen führen
und damit eine Geschichte nicht der graduellen Vervollkommnung, sondern
der decadence bewirken, vgl. Der Antichrist: „Die Menschheit stellt nicht eine
Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar [...]. Der ,Fort-
schritt' ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee. [...] Fortent-
wicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Nothwendigkeit Erhö-
hung, Steigerung, Verstärkung" (AC 4, KSA 6, 171, 2-8; vgl. Sommer 2010, 40-
41). Das heißt: „wir haben ihn [den Menschen] unter die Thiere zurückgestellt.
Er gilt uns als das stärkste Thier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist
seine Geistigkeit" (AC 4, KSA 6, 180, 3-6). Wenn N. schreibt, es gelte, „uns
Menschen [...] zu vernatürlichen" (FW 109, KSA 3, 469, 3-4), uns „zu-
rück[zu]übersetzen in die Natur" (JGB 230, KSA 5, 169, 19-20), dann hat er
freilich keine bloß reduktionistische Interpretation des Menschen im Sinn. N.
erkennt den tierischen Ursprung des Menschen an, der ihm immer wieder neue
Metaphernfelder erschließt, indem er den physischen Stoff und damit eine Art
echter Fundierung für erspürte Ähnlichkeiten liefert.
875, 5 „Weltgeschichte"] Indem N. den Begriff der Weltgeschichte in Anfüh-
rungszeichen setzt, ironisiert er diesen nicht bloß, sondern macht ihn zugleich
als anthropomorphe Abstraktionskategorie kenntlich. Ferner zitiert er durch
die Anführungszeichen gewissermaßen indirekt die Begriffsgeschichte der
„Weltgeschichte". Im 16./17. Jahrhundert bezeichnet diese im Wissenschaftsdis-
kurs die „Universalhistorie" (vgl. das frz. histoire universelle bzw. mondiale/
globale), im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die Menschheitsgeschichte
mit konstatierbarem telos (auf der Grundlage des Perfektibilitätsgedankens,
vgl. Baum/Neumeister/Hornig 1989), die nun, identisch mit dem Kollektivsin-
gular „Geschichte", eine neue Leitwissenschaft begründet. Die sich im Laufe
des 19. Jahrhunderts vollziehende Ausdifferenzierung in Teildisziplinen führte
allmählich zum Geltungsverlust des Begriffs „Weltgeschichte" (vgl. Rohbeck
2004).
Einen teleologischen Geschichtsverlauf - „die allgemeine Weltgeschichte
nach einem Plane der Natur" - möchte auch Kant in der Idee zu einer allgemei-
nen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) als möglich angenommen wis-
sen (AA VII, 29; vgl. dazu Sommer 2006, 310-326). Bei Hegel heißt es in den
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822/1823) bündig: „Aber
die Weltgeschichte ist immer ein Fortschreiten zu einem Höheren" (Hegel 1996,
257). Dass N. mit dem Begriff der Weltgeschichte, ob offen oder verdeckt, meist
gegen Hegels Konzept eines vernünftigen Geschichtsverlaufs als Manifestation
des objektiven Weltgeistes und als auf Perfektibilität beruhenden Fortschritts
(vgl. Koselleck/Meier 1975) polemisiert, belegt etwa eine Stelle aus UB II. Dort
ist von dem verhängnisvollen Einfluss „diese[r] Hegelisch verstandene[n] Ge-