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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0049
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32 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

sprechender" (NL 1872/73, KSA 7, 19[158], 468, 20-23). Die ironische Kontrastie-
rung der menschlichen Wahrnehmungsweise mit der Perzeptionsweise der Mü-
cke, oder die tragische Gegenüberstellung des vermeintlich zweckmäßigen
menschlichen Intellekts und der Kontingenz des Weltgeschehens sind zwei
Beispiele für die in WL häufigen Einstellungswechsel „nach der Höhe der tele-
skopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt" (885, 6-7).
Die Relativität des „Perceptionsapparats" erläutert auf ähnliche Weise
auch Lange in der Geschichte des Materialismus (Iserlohn 1866, 306), wo er -
mit ironischer Hinleitung - etwa Jakob Moleschott zitiert: „Alle Thatsachen,
jede Beobachtung einer Blume, eines Käfers, die Entdeckung einer Welt und
das Belauschen der Eigenheiten des Menschen, was sind sie denn anderes, als
Verhältnisse der Gegenstände zu uneren Sinnen? [...] Darum ist das Wissen des
Insects, die Kenntniss der Wirkungen der Aussenwelt für das Insect auch eine
andere, als für den Menschen".
875, 18 Pathos) Aufschluss über den rhetorisch-philosophischen Begriff des
„Pathos", wie er in WL Verwendung findet, gibt N.s frühe Schrift Ueber das
Pathos der Wahrheit. Das „Pathos" besitzt einen Doppelcharakter: Es entspricht
dem einsam-feierlichen „Ruhm" (CV 1, KSA 1, 755, 4), welcher vornehmlich
den Philosophen auszeichnet, bedeutet aber auch eine besondere Fähigkeit
des „Mitleidens" (CV 1, KSA 1, 758, 7). Auch in WL sind dem Pathos Stolz und
„Hochmuth" (876, 8) zugeordnet, der Philosoph ist als „der stolzeste Mensch"
(875, 23) zugleich der pathetischste (vgl. NL 1872/73, KSA 7, 19[76], 444). „Sein
universaler Trieb zwingt ihn zum schlechten Denken, das ungeheure Pathos
der Wahrheit, am Weitblick seines Standpunktes erzeugt, zwingt ihn zur Mit-
theilung" (NL 1872/73, KSA 7, 19[103], 453, 14-16), zur Sprache, d.h. aber,
tragischerweise, „zur Lüge" (KSA 7, 19[103], 453, 20), zu einer misslingenden
Kommunikation. Tragisch ist aber auch die Enttäuschung, die er so verursacht
und die an der decadence sprachlich-kultureller Konstrukte mitwirkt: „Das
Wahrheitspathos führt zum Untergang. [...] Vor allem zum Untergang der
Kultur" (NL 1872/73, KSA 7, 19[180], 476, 1-3).
875, 22-23 und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint
gar der stolzeste Mensch, der Philosoph] Den „Lastträger" (875, 22) figuriert im
Bestiarium N.s meist der Esel oder das Kamel. Der Esel stellt gewöhnlich den
in seinen Überzeugungen verstrickten Philosophen dar. Das Kamel tritt als „der
tragsame Geist" (Za I Von den drei Verwandlungen, KSA 4, 29, 9), der mit über-
lieferten Werten vernünftigen Handelns beladen ist, im Zarathustra auf und
markiert dort die unterste Stufe der drei Verwandlungen des Geistes. Lastträger
ist der Philosoph für N. in WL insofern, als ihm sein Wahrheitspathos tragisch
auferlegt, von ihm Erkanntes auch zu vermitteln (vgl. NK 875, 18). In seiner
 
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