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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0062
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Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 879 45

anderes als „ein Wörterbuch erblaßter Metaphern" (KGW II/4, 443). Dieser Ge-
danke Jean Pauls ist wesentlich auch für Gerbers evolutionäres Sprachkonzept,
in welchem der tropische Charakter der Worte allmählich in Vergessenheit ge-
rät. Die Metapher vom Entfärben eines ursprünglichen Eindrucks nimmt N.
auch in WL wieder auf, wo von den „entfärbteren, kühleren Begriffen" (881,
24) die Rede ist (vgl. dazu auch Wilhelm Wackernagels Vortrag Über den Ur-
sprung und die Entwickelung der Sprache, der sich, 1866 in Basel gehalten, in
einer Ausgabe von 1872 in N.s Bibliothek wiederfindet; N. markiert sich die
Seite 36, auf der zu lesen ist: „was an der Sprache toenende Form ist, wird nie
mehr so wie vordem charakteristisch mit dem Inhalte zusammenklingen: dafür
ist dieselbe jetzt zu einfarbig und entfärbt" - der „Tonsinn" (Wackernagel 1872,
36), für Wackernagel ein ursprünglicher Trieb, sucht sich in der Kunst ein neu-
es Betätigungsfeld).
Während für Gerber aber die tropische Struktur von Sprache und Bewusst-
sein in der synekdochischen Beziehung zwischen Reiz und Laut sowie in der
relationalen Bedeutungsvielfalt des Wortes begründet liegt, radikalisiert N. in
WL Gerbers Ansatz, insofern er schon den Nervenreiz als Metapher und damit
jeden, auch schon den unbewussten Zugriff des Menschen auf die Welt als
metaphorisch begreift. Jede Form von Übertragung ist ihm Metapher. „Meta-
pher" ist also sowohl jedes „Ueberspringen der Sphäre" (879, 12-13), als auch
jede Denkoperation, die (durchaus im aristotelischen Sinne) auf der Wahrneh-
mung in Analogien beruht („Metapher heißt etwas als gleich behandeln,
was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat", NL 1872/73, KSA 7,
19[249], 498, 1-2; vgl. KSA 7, 19[227], 490). Und nicht zuletzt ist das sprachliche
Produkt dieser Denkoperation ,Metapher', wobei sich die Metaphern der einzel-
nen Übertragungsstufen hinsichtlich ihrer Beweglichkeit, ja Flüssigkeit unter-
scheiden. Einerseits nämlich ist die individuelle Metapher des Sprachbildners
der Vorgänger des verallgemeinerten Begriffs, ist der Begriff eine durch Habitu-
alisierung erstarrte Metapher. Andererseits fungiert die Metapher als lebendi-
ger Antipode zum toten Begriff, der eine Identität zwischen Zeichen und Be-
zeichnetem postuliert, wo nur Analogie möglich ist. Indem erstarrte Metaphern
Anspruch auf Wahrheit erheben, lügen sie für N., was für ein reibungsloses
Zurechtfinden in der Welt aber notwendig ist. Die schöpferische Metapher, die
einem einzigartigen individuellen Erleben ästhetisch entspricht, darüber hi-
naus aber nicht vortäuscht, einen adäquaten Zugriff auf Dinge an sich zu ha-
ben, bewertet N. positiv. Als schöpferisches Bewusstsein denkt solche „Meta-
pherbildung" (887, 1) ihr eigenes relationales Wesen stets bejahend mit, wo-
durch in ihr immer auch Kritik am begrifflichen Sprechen mitschwingt. Sofern
die Metapher auf ihre Falschheit verweist, zugleich aber dem schöpferischen
„Fundamentaltrieb des Menschen" (887, 1-2) gerecht wird, ist sie wahrhaftig.
 
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