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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0066
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Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 880 49

Lebenspraxis unterworfen sind, da der Mensch mit ihnen wie mit Schablonen
seinem Welterleben Form und Orientierung gibt. N. übt hier wiederholt implizi-
te Kritik an Kant, doch auch bei diesem wird bisweilen eine Kritik an willkür-
lich-externalistischen Bezeichnungen (für eine letzte bewegende Ursache)
deutlich, die ein mysteriöses, vom menschlichen Verstand nicht Greifbares
aussagen, letztlich aber nur Platzhalter-, Verlegenheitsbegriffe sind: „Diese
qualitas occulta ist eigentlich das, wenn der bloße Name oder die Würkung
einer uns unbekanten Kraft für die Kraft selber ausgegeben wird" (Metaphysik
Volckmann, AA XXVIII, 432).
Den Begriff der qualitas occulta verwenden auch andere von N. im Umkreis
von WL konsultierte Autoren häufig, etwa Schopenhauer: „Zu den Vorzügen
der Endursachen gehört auch, daß jede wirkende Ursache zuletzt immer auf
einem Unerforschlichen, nämlich einer Naturkraft, d. i. einer qualitas occulta,
beruht, daher sie nur eine relative Erklärung geben kann" (WWV, Bd. 2, B.
1, Kap. 26, 381). Eduard von Hartmann gebraucht den Begriff im Zusammen-
hang einer eigenwilligen Auslegung der „Darwin'schen Theorie", die ihm „vom
ästhetischen Standpuncte aus" als „ungenügend erscheint" (Hartmann 1869,
223). Darwin komme es allein darauf an, quantitative Verschiebungen im Pro-
zess der Vererbung von Eigenschaften einer Art sichtbar zu machen und zu
deuten, das „Wesen" (Hartmann 1869, 224) aber und die Entstehungsumstände
der jeweiligen Eigenschaft bleibe ihm immer eine „qualitas occulta" (Hartmann
1869, 224).
880, 28-29 eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich
wie ihr Gegentheil] Wenn N. in WL jedwede Erkenntnis als anthropomorph de-
klariert, ist jedem dogmatischen und an sich gültigen Urteil von vornherein
der Boden entzogen. Wahrhaftig ist demnach nur ein Denken, das einbekennt,
dass alles, es selbst eingeschlossen, begriffsdichterisch ist. Für die Kunst und
den Mythos ist dies ein Leichtes, ein philosophischer Essay wie WL aber erliegt
unweigerlich dem Dilemma, das der Struktur der Sprache immanent ist. Denn
zwar kann sich die Sprache selbst problematisieren; doch jede Problematisie-
rung ist selbst problematisch und ohne festen Standpunkt, da Gegenstand und
Mittel der Kritik in eins fallen. N. sucht diesem regressus zu entgehen, indem
er sich bemüht, in seinen Denkschritten den transitorischen Charakter der Ge-
danken, die Vorläufigkeit jeder Annahme, die doch zeitweise für wahr gehalten
werden muss, immer offenzulegen. Dem Paradox, die Unbegründbarkeit und
mögliche Falschheit jeder Behauptung verbindlich behaupten zu wollen, be-
gegnet N. also mit einem Schreibverfahren, das die eigene Unerweislichkeit
stets mitreflektiert. Es belegt so gewissermaßen die paradoxe These von der
Unhaltbarheit jeder These, indem es ihr nämlich gestisch zu entsprechen und
so eine Kongruenz, eine andere Art von Wahrheit, zu generieren sucht. Später
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