Stellenkommentar WL 2, KSA 1, S. 885-887 59
mögliche Vorstellungen: jeder Begriff, also eine Metapher ohne Inhalt ist eine
Nachahmung dieser ersten Vorstellungen. Zeit Raum u. Kausalität, sodann die
Urphantasie der Übertragungen in Bilder: das erste giebt die Materie, das zwei-
te die Qualitäten, an die wir glauben. Gleichniß der Musik. Wie kann man von
ihr reden?" N. scheint hier nicht Kants Reflexionen zu den transzendentalen
Kategorien von Raum und Zeit neu zu formulieren, sondern Eduard Hans-
licks - in Vom Musikalisch-Schönen (1854) formulierte - Kritik an der These
von der „Inhaltslosigkeit der Musik" (Hanslick 1865, 129) aufzugreifen: Nach
Hanslick ist die Musik die alleinige Kunstform („die unübersetzbare Urspra-
che", Hanslick 1865, 139), die den metaphorisch-transzendentalen Charakter
der Raum- und Zeitvorstellungen zum Ausdruck bringen kann. Bezieht man
diese frühere Textpassage in die Interpretation von WL mit ein, erscheint die
Musik - und nicht mehr die Metapher - als eigentliche Ausdrucksform und
Gegenspielerin der Begriffssprache; N. hat diese Textstelle, oder überhaupt den
Themenkreis Musik, in die an Gersdorff diktierte Fassung von WL also sicher-
lich bewusst nicht übernommen und so die autoreflexive Verfasstheit von WL
erheblich erhöht.
2.
887, 1-2 Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Men-
schen] Der „Trieb zur Wahrheit" (876, 27-28) findet im „Trieb zur Metapherbil-
dung" (887, 1) sein Pendant. Dieser hat eines seiner Vorbilder in Gerbers
„Kunsttrieb" (SK, 132), welchen dieser in Anlehnung an Schillers Konzepti-
on vom „Spieltrieb", dem vermittelnden Glied zwischen Stoff- und Formtrieb,
formuliert. Der Kunsttrieb zeichnet nach Gerber zunächst den Sprachbildner
aus, zugleich aber jeden Menschen, insofern dieser als Sprechender schon we-
sentlich Künstler ist, da er ein Zeichenrepertoire zu produzieren und zu repro-
duzieren vermag. Sprache ist für Gerber in erster Linie lebendige' Sprache, ist
unbewusster Ausdruck von Kunst und Instinkt.
Einen universalen schöpferischen Kunsttrieb, der allen Organismen imma-
nent sei und sich zweckmäßig entfalte, nimmt auch der Darwinist Ernst Hae-
ckel als Ursache ,schöner' Kunstformen der Natur an. Evolution ist in diesem
Sinne - wie auch N. sie versteht - die instinktive Entwicklung des ästhetischen
Vermögens von Pflanzen, Tieren und Menschen (vgl. Moore 2002, 89-96) -
„mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt" (885, 32-33).
887, 18-24 Pascal hat Recht, wenn er behauptet, dass wir, wenn uns jede Nacht
derselbe Traum käme, davon eben so beschäftigt würden, als von den Dingen,
die wir jeden Tag sehen: „ Wenn ein Handwerker gewiss wäre jede Nacht zu träu-
men volle zwölf Stunden hindurch, dass er König sei, so glaube ich, sagt Pascal,
mögliche Vorstellungen: jeder Begriff, also eine Metapher ohne Inhalt ist eine
Nachahmung dieser ersten Vorstellungen. Zeit Raum u. Kausalität, sodann die
Urphantasie der Übertragungen in Bilder: das erste giebt die Materie, das zwei-
te die Qualitäten, an die wir glauben. Gleichniß der Musik. Wie kann man von
ihr reden?" N. scheint hier nicht Kants Reflexionen zu den transzendentalen
Kategorien von Raum und Zeit neu zu formulieren, sondern Eduard Hans-
licks - in Vom Musikalisch-Schönen (1854) formulierte - Kritik an der These
von der „Inhaltslosigkeit der Musik" (Hanslick 1865, 129) aufzugreifen: Nach
Hanslick ist die Musik die alleinige Kunstform („die unübersetzbare Urspra-
che", Hanslick 1865, 139), die den metaphorisch-transzendentalen Charakter
der Raum- und Zeitvorstellungen zum Ausdruck bringen kann. Bezieht man
diese frühere Textpassage in die Interpretation von WL mit ein, erscheint die
Musik - und nicht mehr die Metapher - als eigentliche Ausdrucksform und
Gegenspielerin der Begriffssprache; N. hat diese Textstelle, oder überhaupt den
Themenkreis Musik, in die an Gersdorff diktierte Fassung von WL also sicher-
lich bewusst nicht übernommen und so die autoreflexive Verfasstheit von WL
erheblich erhöht.
2.
887, 1-2 Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Men-
schen] Der „Trieb zur Wahrheit" (876, 27-28) findet im „Trieb zur Metapherbil-
dung" (887, 1) sein Pendant. Dieser hat eines seiner Vorbilder in Gerbers
„Kunsttrieb" (SK, 132), welchen dieser in Anlehnung an Schillers Konzepti-
on vom „Spieltrieb", dem vermittelnden Glied zwischen Stoff- und Formtrieb,
formuliert. Der Kunsttrieb zeichnet nach Gerber zunächst den Sprachbildner
aus, zugleich aber jeden Menschen, insofern dieser als Sprechender schon we-
sentlich Künstler ist, da er ein Zeichenrepertoire zu produzieren und zu repro-
duzieren vermag. Sprache ist für Gerber in erster Linie lebendige' Sprache, ist
unbewusster Ausdruck von Kunst und Instinkt.
Einen universalen schöpferischen Kunsttrieb, der allen Organismen imma-
nent sei und sich zweckmäßig entfalte, nimmt auch der Darwinist Ernst Hae-
ckel als Ursache ,schöner' Kunstformen der Natur an. Evolution ist in diesem
Sinne - wie auch N. sie versteht - die instinktive Entwicklung des ästhetischen
Vermögens von Pflanzen, Tieren und Menschen (vgl. Moore 2002, 89-96) -
„mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt" (885, 32-33).
887, 18-24 Pascal hat Recht, wenn er behauptet, dass wir, wenn uns jede Nacht
derselbe Traum käme, davon eben so beschäftigt würden, als von den Dingen,
die wir jeden Tag sehen: „ Wenn ein Handwerker gewiss wäre jede Nacht zu träu-
men volle zwölf Stunden hindurch, dass er König sei, so glaube ich, sagt Pascal,